Unsere aktuellen Nachrichten
auf einen Blick
Interview zum Einsatz gegen sexualisierte Gewalt in der EKvW

„Wichtig ist, dass auch kleinsten Hinweisen nachgegangen wird“

Wer Jelena Kracht und Christian Weber länger als zwei Minuten zuhört, der merkt: Es ist ihnen ernst. In einer neuen Fachstelle in der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) sind die ausgebildeten Sozialpädagog*innen für Präventionsarbeit und Intervention zu Fällen sexualisierter Gewalt zuständig.

Das heißt: Sie arbeiten mit Kirchenkreisen und evangelischen Einrichtungen zusammen, wenn es dort Verdachtsfälle gibt – aber auch daran, dass immer mehr Menschen schon vorher genauer hinschauen, um Übergriffe zu verhindern. Dazu hat sich die EKvW in einem Kirchengesetz verpflichtet. Ein Gespräch darüber, wo die westfälische Landeskirche in diesem Prozess steht, was sie schon erreicht hat - und wo es noch Arbeit gibt.

Warum gibt es eine eigene Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der EKvW?

Christian Weber: „Vor allem geht es darum, ein Bewusstsein zu schaffen, wie verbreitet das Problem in der Gesellschaft ist. Dass es da nicht um Einzelfälle geht. Die WHO schätzt, dass in Deutschland in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder sitzen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben - vorsichtig geschätzt. Auch ungefähr jede siebte bis achte erwachsene Person war in der Kindheit oder Jugend betroffen. Und darum sagen wir in Schulungen für Mitarbeitende ganz klar: Auch bei uns in der EKvW findet das statt, auch in eurem Kirchenkreis, in eurer Gemeinde. Ihr habt es täglich mit Betroffenen zu tun – und ihr kennt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Tatpersonen. Das mag uns nicht gefallen, aber alles andere wäre Augenwischerei. Wenn wir das alle verinnerlicht haben, sind wir schon einen großen Schritt weiter – weil wir es dann für möglich halten.“

Frau Kracht, welche Aufgaben hat eine Referentin für Intervention?

Jelena Kracht: Eine Referentin für Intervention ist hier bei uns in der EKvW auf der einen Seite für die Meldestelle zuständig und berät auf der anderen die Interventionsteams vor Ort. In der Meldestelle nehme ich alle Meldungen zu sexualisierter Gewalt innerhalb der EKvW entgegen. Ich berate hier auch anonym. Wenn jemand eine Einschätzung braucht, ob ein Fall meldepflichtig ist oder nicht. Wenn ich eine Intervention vor Ort begleite, ordne ich zu Beginn den Fall erst einmal fachlich ein. Hier ist es auch meine Aufgabe, Fachwissen weiterzugeben, dazu gehört auch Mitwirkenden vor Ort Strategien von Tatpersonen zu erklären. 

Wie läuft ein Interventionsfall also ab? Wann und wie schaltet sich die Fachstelle ein? 

Kracht: „Ein Beispiel: Irgendjemand in der evangelischen Kirche, bekommt etwas mit, von dem er oder sie denkt, das könnte sexualisierte Gewalt sein. Ich nehme dann eine erste fachliche Einschätzung zum Fall vor. Muss in dem vorliegenden Fall sofort gehandelt werden? Braucht es weitere Infomationen? Das schätzen wir dann zusammen ein – und auch, ob wir daraus eine Meldung machen müssen. In der muss stehen, wer betroffen und wer beschuldigt ist. Damit gehe ich dann vor Ort zur höchsten Führungskraft, oft zum Superintendenten. Dort stelle ich den Fall vor und wir besprechen, was nun passieren muss.“ 

Was hat eine Meldung für Auswirkungen?

Kracht: „Das kommt auf den Fall an. Eine der ersten Fragen, die sich im Verdachtsfall stellt, ist, ob der Mensch unter Verdacht sofort freigestellt werden muss. Hier stehen die Schutzbefohlenen im Vordergrund. Meine Rolle ist es, alle Beteiligten ins Blickfeld zu holen - Betroffene und beispielsweise die Elternschaft einer Kita, Eltern von Betroffenen und Mitarbeitende der Gemeinde. Ich sehe meine Rolle auch darin, dass alle Beteiligten bedacht und gehört werden. Hier ist mir ein transparenter Umgang mit der Situation wichtig. Krisenkommunikation und Öffentlichkeitarbeit sind oft schwierige und sensible Themen in der Intervention. Wichtig ist mir, dass auch kleinsten Hinweisen nach gegangen wird. Und man die Perspektive einnimmt, dass es sexualisierte Gewalt gibt und diese auch stattfindet, auch bei uns.“
Weber: „Darum ist es wichtig, dass es eine Fachstelle gibt. Den Beteiligten vor Ort fehlen oft der Blick von außen und der Abstand. Darum braucht es die fachliche Expertise. Und die bieten wir an.“
Kracht: „Ja, ein Blick von außen – durch uns – ist einfach wichtig. Meine Erfahrung zeigt, dass dies auch in vielen Kirchenkreisen und Gemeinden gerne angenommen wird und es als hilfreich erlebt wird.“

Warum bleiben viele Fälle lange im Verborgenen?

Weber: „Die Täter, meist sind es Männer, gehen sehr strategisch vor. Zum Beispiel in der Jugendarbeit: Sie suchen sich die Kinder ganz genau aus – sei es wegen eines schwierigen Elternhauses oder dem eher bildungsfernen Familienhintergrund. Sie denken: Da habe ich es leicht, vertrauten Kontakt herzustellen, weil diese Kinder jemanden brauchen, der sich kümmert. Und irgendwann lassen sich Grenzen ganz leicht verschieben, bis hin zu richtig massiver Gewalt. Sagen dürfen die Kinder aber natürlich nichts, weil dann ja die Verbindung zum/r Täter*in vielleicht zerstört würde. Es wird eine Drohkulisse aufgebaut. ‚Willst du, dass deine Eltern ins Gefängnis müssen? Oder, dass ich ins Gefängnis muss?‘ Dann haben diese Menschen ein Kind komplett unter Kontrolle.“
Kracht: „Das stimmt, statistisch sind es meist Männer. Wobei diese Statistik nicht hinterfragt ob Männer wirklich öfter Täter werden oder das Anzeigeverhalten bei Männern einfach höher ist.“

Wie kann es sein, dass das nicht auffällt?

Weber: „Nach außen verkauft die Tatperson das natürlich so, dass sie sich um dieses bedürftige Kind kümmere, dass das ja total wichtig ist. Es ist ganz klar: Diese Personen verfolgen einen Plan. Sie suchen sich gezielt Berufsfelder, in denen sie an Kinder oder andere Schutzbefohlene herankommen. Das ist kein Thema von Kirche allein, das findet überall in der Gesellschaft statt. Um das zu verdeutlichen: Der SPEAK-Studie zufolge haben sechzig Prozent der Acht- und Neuntklässler in Deutschland sexualisierte Gewalt erlebt oder zumindest mitbekommen. Als Kirche mit vielen Kinder- und Jugendeinrichtungen sind wir besonders in der Verantwortung, da ganz genau hinzuschauen.“ 

Sind die von den Übergriffen Betroffenen in der Intervention dabei?

Weber: „Nein. Aber ihre Perspektive einzubringen, was solche Übergriffe für sie bedeuten, und dass man eben nicht als ersten Schritt ihre Aussagen in Zweifel ziehen darf, ist deshalb umso wichtiger. Dafür sind wir da.“
Kracht: „Deshalb melde ich auch lieber einmal mehr als einmal zu wenig. Denn so ein Prozess bewirkt etwas vor Ort – und wenn dadurch nur ein, zwei Mitarbeitende oder Leitungspersonen künftig ein bisschen genauer hinschauen und ihren eigenen blinden Fleck kennen, dann ist das gut.“ 

Mitarbeitende der evangelischen Kirche von Westfalen sind verpflichtet, Fälle sexualisierter Gewalt zu melden. Das schreibt das „Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ mittlerweile vor. Dafür müssen sie geschult werden, auch dabei hilft die Fachstelle. Was lernen Mitarbeitende in diesen Schulungen?

Kracht: „Wir sagen zum Beispiel: Hinterfragt euer eigenes Handeln! Wie oft berühren wir im Alltag Menschen unreflektiert oder sagen übergriffige Dinge, umarmen die Kinder unserer Freunde, ohne sie zu fragen? Wenn man sich diese Dinge bei sich selbst bewusst macht, dann fällt es einem leichter, sie im Handeln anderer zu erkennen.“ 
Weber: „Und: Lasst uns mehr darüber sprechen. Eigene Grenzen benennen, über unsere Gefühle sprechen. Und lasst uns tradierte Rollenbilder über Bord schmeißen. Solange, überspitzt formuliert, Mädchen nichts zu sagen haben und Jungs nicht über Gefühle reden, haben es Tatpersonen leicht.“

Die Kirchenkreise, Gemeinden, Ämter und Werke der EKvW müssen laut Kirchengesetz bis März 2024 Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt erstellen. Das klingt, als würde die evangelische Kirche das Problem mit Bürokratie bewerfen. Warum sind diese Konzepte wichtig? 

Weber: „Schon allein, weil sie einen Prozess bedeuten. Solche Konzepte zu erstellen, braucht Zeit. Und währenddessen gibt es Veränderungen im ganzen System. Im Grunde ist der Prozess schon Präventionsarbeit, weil plötzlich Probleme auf dem Tisch liegen, die vielleicht längst schon einmal hätten besprochen werden müssen – und das nicht nur beim Thema sexualisierte Gewalt.“
Kracht: „Die Konzepte legen klare Standards zum Umgang mit Meldungen fest. Wenn dann ein Fall auftritt, gibt es ein klares Prozedere. Davon profitieren alle: die Kirchenkreise, die Verantwortlichen, auch Eltern, die klar informiert werden – und auch das Gefühl bekommen: Kirche kümmert sich darum.“

Seit ungefähr drei Monaten gibt es die Fachstelle zum Umgang mit sexualisierter Gewalt bei der EKvW jetzt. Wie hat sich die Zahl der Meldungen entwickelt? 

Kracht: „Tatsächlich sind es, seit wir hier sind, immer mehr geworden. Nicht alle ziehen ein Interventionsverfahren wegen sexualisierter Gewalt nach sich. Einige Menschen lassen sich auch erst einmal beraten, rufen auch mehrmals an, um sich wiederholende Vorfälle zu besprechen.“ 

Einfach dadurch, dass es nun diese landeskirchliche Fachstelle hier in Westfalen gibt? 

Weber: „Naja, wer hinguckt, muss intervenieren. Dass so viel gemeldet wird, ist ja gut. Denn dadurch wird sichtbar, was passiert und was sonst vermutlich verborgen geblieben wäre. Die Leute sind sensibilisiert, das liegt ganz klar an den Schulungen. Das Ergebnis ist: Es melden sich mehr Menschen.“ 
Kracht: „Viele Einrichtungen haben auch vorher schon hingeguckt. Sich beraten zu lassen, ist jetzt aber nochmal leichter geworden. Und mit jedem Fall, in dem sie merken, das ist hilfreich, dass ich da angerufen habe, wird das weitergesagt. Außerdem: Im Landeskirchenamt sitzt ja viel Expertise, von der Kirchenkreise profitieren können: zum Beispiel in Sachen Arbeitsrecht und bei allen juristischen Fragen. Und die, die das genutzt haben, haben durchaus gemerkt: Die sind dazu da, um uns zu unterstützen.“

Zurück