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Lage der Christen im Orient / Zwischen Hoffnung und Resignation / Solidarität Europas

»Orientalische Orthodoxie hat im Herzen eine Heimat«

Wenn Professor Dr. Martin Tamcke über die Christen im Orient spricht, spüren seine Zuhörer die Leidenschaft in seiner Stimme. Die Wärme und Empathie. Aber auch die Traurigkeit und Verzweiflung angesichts von Krieg und Zerstörung im Nahen und Mittleren Osten.

Als Prodekan der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen hätte er vor der Westfälischen Landessynode am Dienstagabend (21. November) einen hoch wissenschaftlichen Vortrag zum Thema »Christen und Kirchen im Mittleren Osten, bedrängt, bedroht, verfolgt« halten können. Hätte er. Hat er aber nicht.

Es sind vielmehr die lebendigen Erinnerungen an seine Reisen in die Region, an die Schicksale von Freunden und Weggefährten, die seine Zuhörerinnen und Zuhörer im Assapheum fesseln. Sie sensibel werden lassen für die schwierige Lage der orientalischen Christen in ihren Heimatländern. Dort, wo Krieg und Gewalt, Angst und religiöse Diskriminierung den Alltag bestimmen, wo Bomben und Hass nicht nur Häuser und Infrastrukturen, sondern ganze Zukunftsträume zerstören. »Heute rede ich nicht nur als Professor der Ökumenischen Theologie, sondern auch als jemand, in dessen Herzen die orientalische Orthodoxie eine Heimat hat«, sagt Tamcke, der sein Leben »der Suche nach Versöhnung und Gemeinschaft« verschrieben hat. Als Student reiste er vor über 40 Jahren zum ersten Mal in die damals noch lebendigen Zentren der syrischen Orthodoxie, die er die »Türen zum geistlichen Schatzhaus der Aramäer« nennt.

Seitdem ist viel passiert. Viele Christen haben ihre Heimatländer verlassen, verlassen müssen. Von der gesamten syrisch-orthodoxen Bevölkerung der Südosttürkei lebt dort heute nur noch ein »winziger Rest«. Die große Mehrheit ist in die Migration gegangen – zunächst nach Deutschland, später auch nach Schweden. Und das ist kein Einzelfall: »In Deutschland und Schweden leben heute auch deutlich mehr syrisch-orthodoxe Christen als in Syrien«, weiß Tamcke. »Was das auf Dauer für Theologie, Selbstverständnis und Kirche der Syrer bedeutet, ist auch heute noch kaum zu ermessen.« Zu Beginn des Krieges in Syrien und angesichts der sich in der Region verschlechternden Situation der Christen habe er zunächst immer wieder gehofft, »im Verbund mit Freunden vor Ort zum Verbleib im Land ermutigen zu können«. Leider erfolglos. Christen fliehen. Sie haben Angst. Todesangst. Martin Tamcke hat selbst »in diesem Krieg zahlreiche Menschen verloren, die mir viel bedeutet haben«. Entführt oder getötet. Vielleicht auch beides. Die Ungewissheit macht ihm zu schaffen.

Tamcke erinnert sich an einen Besuch mit seinen Studierenden im einem Flüchtlingszentrum im Libanon. Die Frage, ob sie nach dem Sieg über den Islamischen Staat (IS) wieder in ihre Heimat zurückkehren würden, verneinten die jungen ostsyrischen Flüchtlinge. »Sie hätten den Eindruck, dass sie in der Region nicht willkommen seien.« Das Trauma des Völkermords von 1915 und anderen Massakern sitzt immer noch zu tief. Inzwischen gibt es zahlreiche konkrete Hilfsprojekte: ein wieder aufgebautes Studentinnenwohnheim in Homs, Partnerschaften der hannoverschen Landeskirche für fünf christliche Schulen, Gemeindepartnerschaften und Hilfskonvois. Aber auch internationale Konferenzen. Immer wieder spickt Tamcke seinen Vortrag mit Fakten und profundem Fachwissen. Über den Irak, der inzwischen 57 Prozent seiner Christen durch Migration verloren hat. Über Willkür und brennende Kirchen in Ägypten. Über Bedrückung und Aussichtslosigkeit im Irak und Eritrea. Sein Fazit: »Angesichts der Situation ist es ein Wunder, dass immer noch Christen im Iran und in der Türkei ausharren.« Die Kirchen versuchen, ein Zeichen zu setzen. Doch dafür brauchen sie Solidarität: »Kirchen in der Region sind auf ihre jeweils weltweite Diaspora angewiesen.«

Wirkliche Solidarität entsteht für Tamcke aber erst durch das Wechselspiel von Geben und Nehmen. Auch wir Europäer könnten viel von den orientalischen Christen lernen: »Gemeinsames Handeln unserer Kirchen mit unseren orientalischen Geschwistern kann unsere Spiritualität vertiefen, elementarisieren und erneuern, wo wir ihnen offen und partnerschaftlich an die Seite treten, sie stützen und in ihrem Amt stärken, Zeichen christlichen Glaubens im Orient zu sein.«
(Synode aktuell 7/2017)

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