Präses und Ratsvorsitzende sprach bei Gedenkstunde im ehemaligen KZ Niederhagen
Gegengift gegen die Moral des Mordens
Anfang April vor 77 Jahren kam für die letzten der Gefangenen im Konzentrationslager Niederhagen in Wewelsburg die Befreiung. Zum Gedenken an die Insassen des Lagers, die unter den Gräueltaten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gelitten haben, fand auf dem Gelände des ehemaligen KZ eine Feierstunde statt. Eine Ansprache zum Gedenken hielt die westfälische Präses und Ratsvorsitzende der EKD Annette Kurschus.
Mindestens 1285 Menschen seien bis zur Befreiung des Lagers in Niederhagen ermordet worden, so die Präses. Und diejenigen, die überlebten und das KZ verlassen konnten, hätten das grausam Erlebte nie vergessen können. „Es ist nicht vorbei, weil das Grauen noch in den Kindeskindern von Opfern und auch Tätern wohnt und ihre Seelen und Leben prägt. Es ist nicht vorbei, weil es Ihre und Eure und meine Aufgabe ist, es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damit es nie, niemals wieder passiert“, so Annette Kurschus.
„Aber“, so fragte die Präses, „was heißt hier: ‚es ist geschehen‘?“ „Wer hat das getan?“ Es heiße, die Täter seien Unmenschen. „Doch das ist falsch und schädlich.“ Die „Vermonsterung der Verbrecher“ sei keine Erklärung sondern vielmehr eine Verklärung, sagte Kurschus. Diejenigen, die gehasst, gefoltert und getötet hätten – und dies anderswo auch heute täten – seien keine verrückten Sadisten, sondern Väter, Mütter, … Brüder, Schwestern, Freunde, Nachbarn, Arbeitskolleginnen … . „Es waren ‚normale‘, stinknormale Leute, die diese Todesmaschinerie in Gang gesetzt, das Morden organisiert, optimiert und millionenfach durchgeführt haben. Sie waren, sie sind aus der Mitte der Gesellschaft. Sie waren, sie sind wie du und ich.“
Es folge die Frage: „Wie kann das geschehen?“ Annette Kurschus bezog sich dabei auf die Gewaltforscher Jan Philipp Reemtsma und Harald Welzer. Anfangs, so deren Feststellungen, hätten fast alle Gewalttäter Schwierigkeiten damit, wehrlose Menschen umzubringen. Es gelänge ihnen aber, ihre Opfer einer Gruppe zuzuordnen, die sie als Gefahr und Bedrohung ausmachten und die aus vermeintlich gutem Grund nicht dieselben Rechte wie sie selbst hätten. Dann werde es zunehmend normal, ja sogar sinnhaft, diese Menschen zu quälen und zu töten.
Keine Moral aber, auch keine Massenmördermoral, komme ohne Glauben aus, hob Annette Kurschus hervor. „Nicht umsonst haben die Nazis das Christentum vernichten wollen, diese Idee, jeder Mensch sei zum Ebenbild Gottes geschaffen, dieses Gebot der Nächsten- und Feindesliebe, diese Religion, die einen Juden ihren Herrn nennt.“ Stattdessen sollte eine neue Religion mit neuen Göttern das Schmiermittel für die Tötungsmaschine sein. So habe Heinrich Himmler die Wewelsburg zur Kultstätte für eine aberwitzige germanische Religion ausbauen wollen, erinnerte die Präses.
Die vierte Frage schließlich: „Was ist das Gegengift gegen die Moral des Mordens?“ Annette Kurschus beantwortete sie direkt: „Erinnern, erinnern, erinnern.“ Aber das allein reiche nicht aus, so die Präses. Entscheidend sei, welches Gottesbild für die Menschen leitend sei, ob man sich selbst, einen anderen Menschen eine Nation, eine so genannte Rasse oder auch Geld zum Gott mache. „Wenn dein Gott aber einer ist, der die Menschen liebt und sie zu Barmherzigkeit und Nächstenliebe befreit, wirst du deinen Mitmenschen zum Leben helfen und ihn nicht zum Tode befördern.“
Es gehe letztlich um die Gottesfrage, um das, woran man sein Herz hänge, um die Frage, was das Höchste, und Tiefste, der Sinn und Grund im Leben sei, sagte Annette Kurschus und wandte sich an die 120 Gäste, die bei Kälte und Schnee an die Stätte des ehemaligen KZ gekommen waren: „Was auch immer Sie glauben, lassen Sie sich nie, niemals!, in der Überzeugung beirren: Dieser Mensch da ist mein Mitmensch. Er ist Mensch wie ich. Ihn zu achten und zu respektieren wie mich selbst, das ist meine Aufgabe.“