Morgenandacht zu Aschermittwoch von Präses Annette Kurschus
An den Tisch!
Dieser Tisch! Der geht mir nicht aus dem Sinn. Sechs Meter lang, 2,60 Meter breit. Dieser Tisch, an den Wladimir Putin Emmanuel Macron und Olaf Scholz zum Gespräch lud – und in Wirklichkeit gar nicht bereit war zum Gespräch. Die Fotografen mussten Weitwinkelobjektive benutzen, als sie ihre Bilder von den Treffen machten.
Inmitten all der Bilder brutaler militärischer Gewalt und Verwüstung, die weltweit bis ins Mark erschüttern, blitzt immer wieder dieser absurde Tisch vor meinem Auge auf. Wir werden ihn noch oft sehen. Vielleicht wird er sogar abgebildet in den Geschichtsbüchern, wo künftige Generationen nachlesen können, wie Wladimir Putin im März 2022 die Zukunft verspielt hat. Und jedes Kind in der Schule wird, wenn es dieses Bild sieht, intuitiv verstehen, warum: Da sitzt einer nicht mit anderen zusammen, im Gegenteil, er nutzt den Tisch, um größtmöglichen Abstand zu markieren. Einsam, völlig isoliert, sitzt er da in seinem Größenwahn. An diesem gespenstischen Tisch, der Menschen nicht miteinander verbindet, sondern voneinander trennt. Eine Karikatur von Tisch. An so einem Tisch nimmt die Zukunft nicht Platz.
Es gab Fotomontagen, die allerlei an diesen verstörend leeren Tisch platzierten. In einer dieser Montagen sitzen zwischen Putin und Macron Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl. Dieses verfremdete Abendmahlsbild geht mir nach. Es zeigt, was in Zeiten der Angst und der Verzweiflung wirklich tröstet und stark macht: Wenn Menschen zusammenrücken, Gemeinschaft suchen, miteinander teilen.
Überall verbünden sich in diesen Tagen die Menschen gegen den Krieg. Zuallererst und immer noch in der Ukraine, gegen die übermächtige russische Armee. Die Kraft, die den Angegriffenen aus gemeinsam getragenem Leid zuwächst, ist eine andere und so viel größer als die Kampfkraft der Angreifer.
In Russland verbünden sich tausende Wissenschaftler und ächten den Krieg gegen die Ukraine. Sie erinnern an das Gemeinsame: „Unsere Väter, Großväter und Urgroßväter haben gemeinsam gegen den Nationalsozialismus gekämpft.“ Das Moskauer Komitee der Soldatenmütter, eine Menschenrechtsorganisation, hat Zulauf von Frauen, die ihre Söhne vor dem Einsatz in der Ukraine schützen wollen.
Im zerstrittenen Europa steht die Einigkeit wieder auf. Die Schweiz hört auf, sich mit Berufung auf ihre Neutralität auszuschließen. Die osteuropäischen Aufnahmemuffel, die sich vor Geflüchteten abgeschottet hatten, öffnen ihre Grenzen für ihre fliehenden Nachbarn. Bis gestern schon 700 Tausend Menschen - und es werden mehr. Wir werden ihnen beistehen, unbedingt.
Und auch die Gemeinschaft mit dem russischen Volk, die über Jahre in Begegnungen und Städtepartnerschaften gefördert wurde, macht stark zum Frieden: ich höre niemanden vom „bösen Russen“ reden. Die Menschen unterscheiden sehr genau zwischen Russland und Putin.
Heute ist Aschermittwoch, Beginn der Passionszeit. Die Christenheit hat sie in den Kalender geschrieben, damit wir das Leid an uns heranlassen. Das Leiden Gottes an seiner Welt. Das Leiden von Menschen, denen Gewalt und Unrecht geschieht. In diesem Jahr hat die Passionszeit bereits eine Woche früher begonnen, am vergangenen Donnerstag.
Der Abendmahlstisch, der nicht nur zur Passionszeit in unseren Kirchen eine besondere Rolle spielt, ist mein Hoffnungsbild. Mein Gegenbild zu diesem gigantischen Tisch im Kreml. Er erinnert an ängstliche Menschen, die in der Nacht des Verrats zusammenkommen, sich verbünden und gemeinsam der Todesangst widerstehen, die das Brot teilen und zusammen fest daran glauben: Es kommt der Tag, an dem wir es in Frieden miteinander essen werden.
Präses Annette Kurschus in der DLF Morgenandacht an Aschermittwoch,
2. März 2022