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Zwei Wochen lang lädt der Kirchenkreis Bielefeld zur Vesperkirche in die Neustädter Marienkirche ein

„Kirche, wie sie sein soll“

Dass das hier kein Mittagstisch wie jeder andere ist, merkt man schon am Eingang. Jeder Gast wird per Handschlag begrüßt, „Wie geht’s? Schön, dass Sie da sind!” Das ist kein Zufall.

„Besonders für Menschen in Armut, die sich sonst oft beschämt im Hintergrund halten, ist das ein wichtiges Zeichen“, weiß Christel Weber, Pfarrerin der Neustädter Marien-Kirchengemeinde: „Bei uns werden sie gesehen!“ Das, da ist sie sicher, macht etwas mit den Menschen und lässt sie über das Sattwerden hinaus teilhaben - an Kultur, an Begegnung, an Gesprächen, dem Zusammensein mit Menschen, mit denen sie in ihrem Alltag ansonsten eher keine gemeinsamen Schnittstellen gehabt hätten. Hier speist der Professor neben dem Wohnungslosen und sie kommen ins Gespräch, sie haben sich etwas zu sagen.

Die Neustädter Marienkirche wird nach der Corona-Pause und der „to go“-Variante von 2022 einmal mehr zur Vesperkirche. Hier soll geteilt, einander auf Augenhöhe begegnet, zusammen gegessen, Kulturelles bewundert und jeder Einzelne gesehen werden. Im Oktober 2021 wurde das Projekt der Vesperkirche mit dem Innovationspreis „TeamGeist“ der Evangelischen Kirche von Westfalen für das Signal, das Miteinander aller Menschen zu fördern und Barrieren abzubauen, ausgezeichnet.

Wie gut das funktioniert, erfährt man zum Beispiel im Gespräch mit Alexander, 72 Jahre alt, im Südwesten der Ukraine nahe der rumänischen Grenze geboren. Über die Erbsen gebeugt erzählt der Mann mit dem wachen Blick seine Lebensgeschichte nur zu gern. Nicht jeden Schlenker versteht man auf Anhieb. Er spreche immer noch „schwach” Deutsch, sagt er, trotz bald 36 Jahren in Deutschland, von denen er viele als Krankenpflegehelfer arbeitete. „Besser Hebräisch, Russisch oder Ukrainisch.“

Aber zwischen Erinnerungen an Lenin und Ceausescu, zwischen Fluchten nach Israel und glücklichen Rettungen in Moskau wird auch in kurzer Zeit klar, was für ein Leben Alexander hinter sich hat. Seinen Enkeln, die noch in der Ukraine leben, gehe es gut, sagt er - und nimmt damit die unvermeidliche Frage vorweg. Bei ihnen herrsche noch kein Krieg. Für den „verrückten Putin“ hat er nur Verachtung übrig, winkt grimmig ab. „Er macht alles kaputt, schickt Tausende in den Tod.“ Die große Politik, so schnell ist sie besprochen an diesem Mittagstisch.

Einen Tisch weiter lässt Rieke K. – Notizblock und Vesperkirch-Schürze in neongrün - den Blick wachsam durch den Kirchraum schweifen. Gerade setzen sich die nächsten Gäste, wenig später wird sie ihre Bestellungen aufnehmen. Erbsensuppe mit Bockwürstchen oder in einer vegetarischen Version steht diesmal auf dem Speiseplan. Ohne das Angebot, das der Kirchenkreis, die Diakonie und die Gemeinde organisiert haben, wäre niemand von ihnen hier - auch Rieke K. nicht. „Wir verbringen unseren Teamtag hier“ verrät die Mitarbeiterin des Betheler ProWerks. Ein Dutzend Kollegen und sie selbst bedienen die Gäste. „Und ich finde das richtig gut.“

Rieke K. und ihre Kollegen sind nur ein Beispiel dafür, welche Kreise das Projekt zieht – und wen es erreicht. Die Hunderte von Helfern rekrutierten die Organisatoren aus verschiedensten kirchennahen und -fernen Gesellschaftsteilen. Das Angebot, das ist ihnen wichtig, ist explizit „keine Armenspeisung“, so drückt es ein anderer Helfer aus. In einer ersten Bilanz resümiert Ulrich Wolf-Barnett, Projektleiter der Vesperkirche: „Noch stärker als bei der ersten Vesperkirche 2020 ist unser Konzept der Begegnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten an den Tischen aufgegangen. Zugleich stellen wir fest, dass zunehmend Menschen kommen, die einsam sind und neben der kostenfreien Mahlzeit das Angebot der Begegnung und des miteinander Redens schätzen.“

Daraus wird deutlich, dass die Vesperkirche mehr bietet als nur ein warmes Mittagessen in Zeiten, die angesichts des Krieges, der Inflation und steigenden Preisen für viele immer schwerer zu bewältigen sind. Nicht für jeden Besucher ist ein respektvoller und wertschätzender Umgang im Alltag selbstverständlich. Das Konzept gibt den Veranstaltern recht - in den Spitzenzeiten werden bis zu 500 Gäste in der Kirche gewesen sein und die Zahl der täglich ausgeschenkten Menüs stetig angehoben worden sein. Dass die Vesperkirche eine Fortsetzung erfahren wird, steht fest, in den kommenden Wochen wird noch entschieden, wann.

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