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ForuM-Substudie zu sexualisierter Gewalt in Lüdenscheid-Brügge vorgestellt

„Aufdeckungsverhinderungen treffen bis ins Mark“

Prof. Dr. Martin Wazlawik (Hochschule Hannover) sowie Helga Dill und Sabine Wallner (Institut für Praxisforschung und Projektberatung, München) haben am Donnerstag (21. März) in Bielefeld die Ergebnisse ihrer ForuM-Substudie „Aufarbeitung vor Ort“ zu den Missbrauchsfällen in der Ev. Kirchengemeinde Brügge-Lösenbach (Evangelischer Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg) vorgestellt. Dazu waren neben Betroffenen auch Leitungspersonen und an der Aufklärung Beteiligte aus Landeskirche, Kirchenkreis und Gemeinde sowie Medienvertreter ins Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) gekommen.

Kirchenrätin Daniela Fricke, Beauftragte für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung in der EKvW, dankte zunächst allen, die durch Interviews an der Studie mitgewirkt und sich in den Jahren 2020 bis 2022 an sie oder andere Mitglieder des Interventionsteams gewandt haben: „Sie alle haben Ihre unverwechselbare, individuelle Geschichte eingetragen, ob sie Eingang in die Studie gefunden hat oder nicht. Sie alle haben so viel Mut aufgebracht, sich solcher Anstrengung unterzogen, wie wir es als Institution auf jeder Ebene, das zeigt die Studie in aller Deutlichkeit, in Jahrzehnten nicht vermocht haben. Ebenso gebührt der Dank Ihnen, die als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, ehemalige beruflich und ehrenamtlich in der Ev. Kirchengemeinde Brügge-Lösenbach Tätige, als ehemalige jugendliche Teilnehmende, als Eltern ihre Erinnerungen und Erlebnisse berichtet und so dazu beigetragen, dass sich das Bild dieses jahrzehntelangen unsäglichen Geschehens zusammensetzt und nun eben doch, endlich, sagbar wurde: sexualisierte Gewalt in schrecklichem Ausmaß an so vielen jungen Menschen, über so lange Zeit im System verdeckt geblieben.“

Aufdeckungsversuche, Machtverhältnisse und Täterstrategie

Fricke zeigte sich erschüttert über das den kirchlichen Gremien in der 80-seitigen Studie attestierte Scheitern einer umfassenden und transparenten Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Ev. Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg: „Obwohl ich die Geschichten von Ihnen, den Betroffenen kenne, selbst gehört und teilweise verschriftlicht habe, mit so vielen gesprochen und in unzähligen Stunden im Interventionsteam, im Presbyterium und an anderen Orten davon gesprochen habe, trifft die komprimierte Darstellung der Aufdeckungsversuche, der Verstrickungen, Machtverhältnisse, der Täterstrategie und der bis zum Sommer 2020 andauernden Aufdeckungsverhinderungen bis ins Mark.“

Gleichzeitig wünschte sie sich eine über den Studienfokus hinausgehende, intensivere Auseinandersetzung mit den Strukturen, die das Geschehen überhaupt erst möglich gemacht haben: „Darüber müssen wir noch mehr wissen, noch tiefer einsteigen, noch systematischer aufbereiten, um besser noch verstehen zu können: Wie war das möglich, dass der Täter über vier Jahrzehnte ungehindert blieb? Welche Konstellationen, Verhaltensweisen, strukturellen Bedingungen, haben das begünstigt? Welche Rolle spielten Frömmigkeitstradition und theologische – ich möchte sagen pervertierte theologische Begründungen? Verstehen, um daraus lernen zu können, Veränderungen herbeizuführen, damit Menschen im Raum unserer Kirche geschützt sind.“

Auch für Dr. Christof Grote, Superintendent des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, sind die vorgelegten Studienergebnisse Motivation und Auftrag, am Thema dranzubleiben, Versäumnisse einzugestehen und konstruktiv weiterzudenken: „Überhaupt fordert uns die Studie nun, nachzuarbeiten und genauer hinzuschauen. Sicherlich müssen wir dabei auch noch einmal einen genaueren Blick auf die Faktoren lenken, die solche Fälle sexualisierter Gewalt in unserer Kirche erst ermöglichen. Die umfangreiche ForuM-Studie zeigt hier einiges auf, was wir auf die konkrete Situation in der Gemeinde Brügge-Lösenbach noch genauer analysieren müssen, um im Sinne einer gelingenden Prävention handeln zu können. Hier müssen wir die Ergebnisse der Studie sicherlich noch ergänzen.“

Aufklärung als Aufgabe von Intervention?

Dankbar, so Grote, sei er auch für „die klare Benennung der Studie, dass die Betroffenen nicht nur eine andere Kommunikation und Transparenz erwartet haben, sondern auch eine andere Form der Aufklärung, nämlich eine Aufklärung, in der das Interventionsteam viel aktiver auf mögliche Beteiligte zugehen sollte. Das haben wir erst sehr spät und dann auch nur ansatzweise so getan. Dieses Bedürfnis der Betroffenen habe ich lange Zeit so deutlich nicht wahrgenommen.“ Galt bislang: „Die Aufgabe des Interventionsteams ist es nicht, ermittelnd tätig zu werden“, müsse jetzt also noch einmal geprüft werden, ob die Aufgabe von Intervention nicht doch anders gefasst werden müsse, nämlich auch als „mitverantwortlich für die Aufklärung“.

Etwas mehr Differenziertheit hätte sich Grote von den Studienmachern allerdings mit Blick auf die konfliktträchtige und diffuse Gemengelage im Presbyterium gewünscht, die die Verständigung mit dem Interventionsteam häufig nur schwer möglich gemacht habe. „Ich habe eine Gemeinde mit einem Presbyterium erlebt, das Prozesse durchgemacht hat, wie wir sie sonst aus Trauerphasen kennen“, erinnert sich Grote. „Gerade die Mitglieder des Interventionsteams aus dem Presbyterium sind hier in eine Position geraten, wo sie im Interventionsteam teilweise massiv kritisiert worden sind aufgrund der teilweise schleppenden Umsetzung vor Ort. Dort wiederum sind sie immer wieder als Quertreiber angegriffen worden, die die Einheit der Gemeinde und ihrer Leitung in Frage stellen. Hier wäre sicherlich ein noch deutlich runderes Bild der Konfliktlinien entstanden, wenn für die Studie auch Mitglieder des Interventionsteams aus Lüdenscheid interviewt worden wären, wozu diese sich auch durchaus bereit erklärt hatten.“ All das stelle aber nicht den grundlegenden Kritikpunkt der Studie infrage: „Sehr schnell ist aus einer an den Bedürfnissen der von sexualisierter Gewalt Betroffenen ausgerichteten Arbeit eine innerkirchliche Selbstbeschäftigung geworden“, räumte Grote ein.

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