»Von Herzen«: Das pflegte meine Großmutter unter ihre Briefe zu schreiben. Und da sie weit von uns weg wohnte, schrieb sie oft. Ich sehe die vertraute Schrift noch vor mir: »Von Herzen – Deine Oma.« Das war keine Floskel. Im Gegenteil – als Kind konnte ich den Wärmestrom spüren, der in diesen Worten lag.
»Von Herzen«: Da war sie ganz drin. Mit ihrer Liebe - und mit der Strenge auch, die sie manchmal an den Tag legte und die ich durchaus fürchtete. Mit den Geschichten von früher, die ich immer und immer wieder hören wollte. Und auch mit den schrulligen Angewohnheiten, die mit dem Alter immer mehr zunahmen. Seitdem ist mir diese Wendung kostbar: »Von Herzen.«
Die Bibel hat ein ganz eigenes Verständnis vom Herzen. In der hebräischen, wie in der griechischen Sprache konzentriert sich da, im Herzen, das, was den Menschen ausmacht: Im Herzen hat der Wille seinen Sitz und das Gewissen. Im Herzen fallen Entscheidungen, im Herzen werden Pläne geschmiedet, im Herzen wird nachgedacht. Gutes und Böses kann aus dem Herzen kommen; es kann verstockt sein, es kann sich fest machen und hart; es kann sich öffnen und anderen zuwenden; schließlich kann es ängstlich und unruhig umherflattern wie ein Vogel im Käfig. Mein Herz – das bin nach biblischem Verständnis ich selbst. Dein Herz – das bist du. Unser Herz, das sind wir - so, wie wir jetzt da sind.
Herzenswärme und Herzenskälte
Aber wie sind wir denn? Und wie stehen wir da mit meinem, deinem, unserem Herzen? »Wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein«, sagt Jesus und wirft damit die heikle Frage auf nach den Herzensangelegenheiten in uns selbst, in unseren Gemeinden und in unserem Land. Mir fallen erstaunliche Zeichen von Herzenswärme und Herzensklugheit ein, Taten der Liebe und der Güte, der schlichten und gerade darin schönen Menschenfreundlichkeit, die mitdenkt, mitfühlt und mit anpackt. Aber da sind auch hängende Mundwinkel und Verzagtheit, bittere Tränen und schreckensweite Münder. Da ist dumpfe Gleichgültigkeit, da sind Wut und Herzenskälte. Nicht zuletzt ist da ein erschreckender Unwille, sich berühren zu lassen vom Leid und der Bedürftigkeit anderer – bis hin zu der offenen Behauptung, wir im wohlhabenden und sicheren Europa hätten ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden von der Not und Ungerechtigkeit der Welt. Woher sollte solches »Recht« kommen?
Und schließlich sind da auch noch die Ohnmacht und die Unfähigkeit einer Menschheit, die mit all ihren Möglichkeiten, ihrer Weisheit und trotz aller Klugheit so etwas wie ein Herz aus Stein in der Brust zu haben scheint. Einer Menschheit, die offenbar nicht in der Lage ist, sich wirklich ein Herz zum Frieden, zu Versöhnung und Gerechtigkeit zu fassen. »Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding«: So bringt ein Prophet Israels diese Erfahrung auf den Punkt. Die biblische Erzählung von der Sintflut lässt Gott gar so entsetzt und erschüttert über die Taten der Menschen sein, dass er den Eindruck äußert, das Menschenherz könne den ganzen Tag nur Böses hervorbringen. Auch die Jahreslosung für das kommende Jahr aus dem Buch des Propheten Ezechiel geht sehr realistisch davon aus, dass wir es aus uns selbst und unserem eigenen alten Herzen heraus nicht vermögen, das Neue, das die Welt braucht, zu tun oder auch nur zu wollen.
Die Medizin sagt uns, welch ungeheuer leistungsfähiges, aber auch ungeheuer beanspruchtes Organ unser Herz ist. Was für ein starkes Gebilde – und doch so fragil und sprunghaft und verletzlich. Es ist das pulsierende Lebenszentrum, das wir in uns spüren können, wenn wir in der Stille sind und in uns hineinhören. Es ist das, was beim Embryo schon sehr früh im Ultraschall auffällt. Beim bebrüteten Hühnerei, wenn man es gegen das Licht hält, ist übrigens dieses schlagende Herz schon ab dem dritten Tag durch die Schale – als ein im wahrsten Sinne des Wortes »springender Punkt« – zu erkennen. Der eigentlich springende Punkt aber ist, dass es mit diesem Punkt so eine Sache ist. Das Herz kann der Ort tiefer Liebe und Menschlichkeit sein – und der Ort abgründiger Ohnmacht und brennender Wut. Der Ort erhabener Haltungen und bodenloser Dummheit. Das Herz markiert die Stelle, an der wir lebendig sind. Und es ist die Art, wie wir lebendig sind. Eben deshalb aber – und hier ist die Bibel realistischer als wir es uns oft eingestehen – sind wir nicht Herr oder Herrin unseres eigenen Herzens.
Wer aber oder was stupst in mir, in dir und in uns das Herz an zur Hoffnung, zur Güte und zum Glauben?
Präses Annette Kurschus
Wir können es weder anhalten noch anstupsen, um weiter zu schlagen. Und so voll uns das Herz mitunter sein mag: Voll des Glaubens, voll der Liebe und voll des Gottvertrauens – so leer ist es mitunter auch, ganz zu schweigen von dem, was zu Zeiten stattdessen darin wohnt. Das Herz kann uns hart werden, und es kann uns brechen. Es kann in uns rasen, uns davongaloppieren. Es kann aussetzten und stehenbleiben, das Herz. Und so wenig sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte, so wenig ein Hammer sich selber hämmern kann, so wenig können wir einwirken auf unser Herz, so wenig können wir uns vornehmen, fröhlich, gütig und gläubig zu sein. Das ist der Punkt. Wer aber oder was stupst in mir, in dir und in uns das Herz an zur Hoffnung, zur Güte und zum Glauben?
Beherzte Hoffnung
So realistisch, so nüchtern ja beinahe pessimistisch – und darin heilsam - die Bibel mitunter von den Grenzen des menschlichen Herzens zu reden und zu denken weiß, so fest und so beherzt – und darin tröstlich und berührend - spricht sie andererseits die Hoffnung, ja sogar die Gewissheit aus, dass Gott dieses unser Herz kennt und liebt, ja sogar sein Herz an uns verschenkt. In Christus kommt Gott uns mit seinem eigenen Herzen nah. In Christus ist Gott seinerseits »von Herzen« bei uns. Nimmt teil an unseren Herzenserfahrungen. Auch und gerade an den traurigen und müden und resignierten. Ja mehr noch: Er nimmt sie auf sich, so dass sie uns nicht zerstören. Gott kommt nahe, Gott nimmt teil an diesen Herzenserfahrungen. Gott nimmt sie auf sich, erlebt sie mit.
In Christus begegnet uns Gottes Herz. So viele Geschichten der Bibel erzählen davon. Wie Jesus mit den Menschen weint und lacht; wie er mit ihnen erschüttert ist und sich mit ihnen freut; wie er vor Wut ausrastet und wie ihm vor Angst die Knie schlottern. Wie vollkommen trostlos sein Herz ist, sogar von Gott im Stich gelassen. Und wie sein totes Herz neues Leben gewinnt. Und das Wunderbare: Herz an Herz mit seiner Lebendigkeit werden Menschen fähig, das Ihre zu tun, für ihre Nächsten zu handeln und für Gottes Welt zu hoffen. Von ganzem, von neuem Herzen.
Ihre Annette Kurschus
Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen