Ein Zwischenruf des Friedensbeauftragten der EKvW
„Umkehr zum Leben“
Ostern lässt sich als Friedensfest verstehen und feiern: Gedanken von Christian Bald, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen und Superintendent des Kirchenkreises Bielefeld:
„Umkehr zum Leben“ – bei diesen Worten steht mir ein Cartoon vor Augen. Eine übergroße Hand schiebt einen Menschen aus einer Kirche. Der Mensch trägt eine Bombe unter dem Arm. Unter dem Cartoon steht der Satz: „Die Zeit ist da für ein NEIN, ohne jedes JA zu Massenvernichtungswaffen.“
Der Cartoon prägt bis heute meine Erinnerung an den 20. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Vor genau 40 Jahren fand er in Hannover statt. Damals, 1983, war die Hochzeit des globalen Wettrüstens. Die Blockbildung, die in den Kennzeichnungen NATO und Warschauer Pakt Menschen physisch, emotional und gedanklich voneinander trennte, hatte im Rüstungswettlauf ihren absurden Höhepunkt erreicht. Der NATO-Doppelbeschluss wurde umgesetzt und Europa damals mit einem Pulverfass verglichen. Die verbreitete Sorge um eine unbedachte Zündung und die Diskussion um eine „first-strike-policy“ (atomare Erstschlagstrategie) fand bis in die Kinosäle hinein verstörende Anschauungen.
Der Kirchentag in Hannover stand damals in einer Reihe mit den großen Friedensdemonstrationen. Aus ihnen ragt diejenige heraus, die am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten mit über 300.000 Teilnehmenden stattfand. Repräsentativ für eine Stimmungsmehrheit in der damaligen Bundesrepublik hatten sich Menschen „Gegen die atomare Bedrohung (gemeinsam vorgehen)“ ausgesprochen. Es waren die Jahre in denen die Ostermärsche mit ihrem Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ in vielen Städten unseres Landes Zulauf und Aufmerksamkeit erlangten.
„Schwerter zu Pflugscharen“
Etwa zeitgleich organisierte Diakon Günter Johannsen im Oktober 1982 unter dem biblischen Zitat „Schwerter zu Pflugscharen“ die ersten Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche. Der Ruf nach Frieden, nach einer „Umkehr zum Leben“ war in diesen Jahren auf beiden Seiten der Mauer deutlich vernehmbar geworden. Der Wunsch nach Frieden und Abrüstung hatte über politische und ideologische Grenzen hinweg eine solidarische Verbundenheit in der Sache ermöglicht. Als „Montagsgebete“ haben Leipziger Friedensandachten schließlich wesentlich zum „Fall der Mauer“ und der friedlichen Auflösung der Blockbildung beigetragen. Bis in die Gegenwart hinein werden die Montagsandachten als regelmäßige Friedensgebete fortgesetzt.
Das Gebet ist eine wichtige Form der Friedensarbeit. Viele Gemeinden in unserer westfälischen Kirche richten in diesen Tagen Friedensgebete aus. Es tut gut, darum zu wissen, dass in unsere Kirchen und Gemeindehäuser eingeladen wird zu Andacht und Besinnung auf Gedanken des Friedens und der Versöhnung. In der Hinwendung zu Gott kommen Menschen mit Gottes unbedingtem Friedenswillen in Berührung.
Am Ostermorgen wird dieser Friedenswille den Jüngern Jesu zu einer ihr Leben bestimmenden Erfahrung. „Friede sei mit euch!“, lautet der Gruß, mit dem der auferstandene Christus in ihre Mitte tritt (Joh. 20,21 u. 26). Nicht die Gewalterfahrung des Karfreitags sollte für sie lebensbestimmend wirksam sein, sondern der Friedenswille Gottes.
Die Ostererfahrung der Jünger ist im Grunde eine Friedenserfahrung. Der Friede mit Gott wird in der Folgezeit zum zentralen Inhalt der christlichen Verkündigung (Röm.5,1). Der Friede Gottes soll künftig die Herzen der Menschen bewahren (Phil. 4,7) und der Friede Christi die „Herzen regieren“. Der auferstandene Christus wird schließlich selbst mit der Wirklichkeit des Friedens identifiziert (Eph. 2,14). Ostern lässt sich, wie Weihnachten, von daher als Friedensfest verstehen und feiern. Mit beiden Festen ist die Einladung zu einer „Umkehr zum Leben“ verbunden, einem Leben, das sich dem Frieden und mit ihm auch der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet weiß.
Ostern 2023 bedeutet "Umkehr zum Leben"
Nun gehen wir in diesem Jahr auf das Osterfest zu und erleben dabei einmal mehr: Das friedliche Zusammenleben von Menschen und Staaten versteht sich nicht von selbst. Spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine und die damit verbundenen humanitären, ökologischen und ökonomischen Folgen kehrt in unser Bewusstsein zurück, dass friedliches Zusammenleben einen nachhaltigen Gestaltungwillen braucht. Für Frieden muss nachhaltig gearbeitet werden, pädagogisch, politisch, wirtschaftlich, sozial, ja, und auch militärisch. Die große Bereitschaft von Politik und Zivilgesellschaft zur Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen leistet hier einen wesentlichen Beitrag der Friedensarbeit. Aber auch die Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen zur Wahrnehmung ihres völkerrechtlich begründeten Anspruchs auf Selbstverteidigung lässt sich als eine friedenspolitische Maßnahme ansprechen.
Aus ganz unterschiedlichen Gesprächen ist mir bewusst, dass auch pazifistisch eingestellte Menschen in dieser Situation ein echtes friedensethisches Dilemma erleben. In der akuten Situation der eskalierten Gewalt ist eine unbefleckte friedensethische Position kaum zu erreichen. Die menschenverachtende Politik des russischen Machtapparates hat in den zurückliegenden Monaten ihr verstörendes Gesicht überdeutlich gezeigt. Das Töten wird nicht aufhören, wenn die Ukraine sich nicht länger wehrt. Das Töten wird aber aufhören, wenn Russland umkehrt: vom Weg der Gewalt und aus ukrainischem Territorium, hin zu einem Frieden, der mit Gerechtigkeit einhergeht. Es geht in der Konfliktlage nicht, wie in den 1980er Jahren, um die Beendigung eines sinnfreien Rüstungswettlaufs und die Beseitigung von Feindbildern. Es geht um das Ende eines Krieges und den Beginn einer Friedensarbeit, die nachhaltig ist. Das Ziel aller politischen Maßnahmen muss auf das Ende der durch Russland verursachten Gewalt gerichtet sein. Einen Frieden, der nachhaltig ist und mithin diesen Namen verdient, wird es daher ohne eine umfassende Unterstützung der Ukraine nicht geben.
„Umkehr zum Leben“ – das Motto des Kirchentages in Hannover bewahrt uns die Erinnerung an die Friedensabsicht Gottes. Sie ist mit dem Osterfest und seiner Botschaft untrennbar verbunden und will von hier aus hineinwirken in unsere Welt. Deren Wirklichkeit ist nicht erst seit der Ansage der „Zeitenwende“ in beständigem Wandel und mahnt uns jeweils neu nach Wegen des Friedens suchen und fragen.
„Umkehr zum Leben“ - inhaltlich liegt dieser Appell zur Umkehr nahe bei dem Leitwort, das über dem Kirchentag steht, der in diesem Jahr vom 7. Bis 11. Juni in Nürnberg stattfinden wird. Mit „Jetzt ist die Zeit“ greift der Kirchentag den Beginn des Wirkens Jesu auf (Markus 1,15). Buße, Umkehr und liebendes Vertrauen auf Gottes Zeit fassen die gute Botschaft zusammen, die Jesus Evangelium nennt. Jesus lädt ein zu einem Leben, das inmitten aller Erfahrungen von Leid und Schuld sich in jenem Frieden geborgen weiß, der höher ist als alle menschliche Vernunft