100 Jahre „Dattelner Abendmahl“: Festgottesdienst mit Präses Annette Kurschus
„Ich gebe die Hoffnung auf Frieden nicht auf“
Für Präses Dr. h.c. Annette Kurschus ist das „Dattelner Abendmahl“ ein „kleines Wunder“: Am Karfreitag vor 100 Jahren – also am 30. März 1923 – reichten sich der französische Offizier und Etienne Bach und der Dattelner Beigeordnete Karl Wille im Lutherhaus nach dem Empfang von Brot und Wein die Hand. Eine spontane Versöhnungsgeste zweier „Erbfeinde“, die bis heute zur Verständigung über Grenzen hinweg ermutigt.
Anlässlich des Jubiläums predigte die leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Festgottesdienst in der Dattelner Lutherkirche.
„Die großen Wunder in der Geschichte fallen nicht vom Himmel. Kleine Wunder bahnen ihnen den Weg. Eines dieser kleinen Wunder ist jene unerwartete Begegnung, die sich vor einhundert Jahren in Ihrer Gemeinde zugetragen hat“, sagte Kurschus. Gerade jetzt, da Frieden so quälend aussichtslos erscheine und jeder Weg dahin verbaut; gerade jetzt, da neue Feindschaften sich gefährlich verfestigten, bräuchten wir Geschichten von solchen kleinen Wundern. Geschichten, die davon erzählen, wie unüberwindbare Verfeindungen auf wundersame Weise doch überwunden wurden.
In der Sprache der Bibel, so Kurschus, hießen solche Momente wie der damals vor dem Altar im Dattelner Lutherhaus „Kairos“: „Ein Augenblick, in dem der Himmel offen ist. Ein Jetzt, in dem geschieht, was niemand für möglich gehalten hat. Ein Moment voll göttlicher, schöpferischer Kraft.“ Etienne Bach und Karl Wille haben sich von solch einem Moment ergreifen lassen. Und ihre Begegnung zeigt noch heute: „Um Frieden miteinander zu schließen, müssen Menschen nicht zu Freunden werden. Ich kann den anderen weiter befremdlich und unsympathisch finden, möglicherweise gehe ich ihm nach wie vor auf die Nerven. Und doch kann Friede zwischen uns sein. Menschen, die Frieden schließen, können durchaus gegnerische Interessen behalten und unterschiedliche Ansichten vertreten. Das Entscheidende in dieser Begegnung ist: Der Franzose und der Deutsche hören auf, Feinde zu sein.“ In diesem Kairos, betont Kurschus, wirke etwas, das größer sei als alles, was Feinde voneinander denken und gegeneinander planen: „Es ist die Kraft der Worte und der Gesten des Abendmahls, das Heilige der Gegenwart Gottes.“
Dass es Wunder wie diese unerwartete Begegnung bis heute gebe – daran glaubt Annette Kurschus ganz fest. Und am Ende seien es immer einzelne Menschen, die einander gegenübersäßen, Auge in Auge. Und: „Zwischen diesen beiden Menschen kann sich Bahn brechen, was weit über eine einzelne Begegnung hinausgeht. Eine Menschlichkeit, die Kreise zieht. Gottes Geist weht, wo er will.“ Sie sei überzeugt, dass der dringend nötige Waffenstillstand in der Ukraine nicht allein auf dem Schlachtfeld errungen werde. Wobei ein Waffenstillstand noch nicht Frieden und längst nicht das Ende der Feindschaft sei.
Annette Kurschus sprach sich dafür aus, der Ukraine zu helfen, sich militärisch zu verteidigen. Gleichzeitig wisse sie aber auch: „Das Schlachtfeld ist ein Ort, auf dem die Feinde sich nicht mehr als Menschen begegnen können“. Darum sei es so wichtig, dass wir in diesem Krieg auf Begegnungen bestünden, in denen wirklich menschliche Begegnung möglich sei – und wenn sie noch so aussichtslos und sinnlos erschiene. Denn: „Das hunderttausendfache Sterben muss aufhören.“
Ihr Appell: „Lasst uns die Hoffnung auf den Kairos niemals aufgeben. Ich jedenfalls hoffe auf den Kairos, in dem ein Waffenstillstand in der Ukraine herbeiverhandelt werden kann. Ich hoffe, dass Gottes Geist Raum und Zeit eröffnet, in denen wirklich wird, was bisher utopisch ist. Ich gebe die Hoffnung auf Frieden nicht auf.“
Zum Hintergrund
Hinter dem "Dattelner Abendmahl" verbirgt sich die historische Versöhnungsgeste am Karfreitag 1923 im Lutherhaus in Datteln. Der damalige französische Besatzungsoffizier Etienne Bach (1892-1986) reichte nach dem Abendmahl im Lutherhaus seinem deutschen Widersacher, dem deutschen Amtsbeigeordneten Karl Wille, die Hand zur Versöhnung. Aus (Erb-)Feinden wurden Gegner, die sich auf Augenhöhe begegnen konnten und lösungsorientiert gemeinsam zum Wohl der Zivilbevölkerung zusammenarbeiteten. Für Capitaine Bach war der spirituelle Impuls des Dattelner Abendmahls der Ausgangspunkt für seine ökumenische Friedensarbeit zwischen den Weltkriegen ("Kreuzritter für den Frieden", später "Christlicher Friedensdienst" bzw. yap-cfd heute unter dem Dach von ICJA).