Auf dieser Seite finden Sie die ausführliche Reportage von Dr. Ulrich Möller, Dezernent für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen, sowie eine Fotostrecke von der Reise.
Leuchtturm der Hoffnung für gefährdete Flüchtlinge
Januar 2015. »Ich musste in die Türkei fliehen und habe versucht von dort nach Griechenland einzureisen. Aber sie schickten mich zurück. Schließlich schaffte ich es, einen Platz auf einem Boot nach Sizilien zu bekommen, zusammen mit 250 Menschen, die meisten von ihnen Kinder und Frauen. Unterwegs konnte das Boot aufgrund eines Motorschadens nicht weiterfahren. Vier Tage und vier Nächte trieben wir auf dem Meer ohne Essen und ohne Trinken bis wir gerettet wurden. Aber meine Reise ist nichts verglichen mit dem, was ich in Syrien gesehen habe.«
Mustafa ist einer von 38 Gästen
Mustafa ist 14 Jahre alt und ist einer der 38 Gäste, die aufgenommen worden sind in der »Casa delle Culture«, dem Haus der Kulturen in der Stadt Scicli an der Ostküste Siziliens, wenige Kilometer von dem Hafen Pozzallo, einem zentralen Ankunftshafen für die Migrantinnen und Migranten, die von den italienischen Militärschiffen im Mittelmeer gerettet werden. Es wird betrieben vom Projekt »Mediterranean Hope« (Hoffnung Mittelmeer) der Föderation der Protestantischen Kirchen in Italien (FECEI) und maßgeblich finanziert aus den 8-ProMille-Mitteln der Kirche der Waldenser und Methodisten. Deutscher Kooperationspartner ist die Evangelische Kirche von Westfalen, die das Projekt personell und finanziell unterstützt.
Gäste aus Somalia, Syrien, Gambia und Eritrea
Zusammen mit Mustafa leben zurzeit im Haus der Kulturen Gäste aus Somalia, Syrien, Gambia und Eritrea. Mustafa wurde von der Präfektur von Ragusa in die Obhut der städtischen Verwaltung von Pozzallo gegeben, die ihn dann dem kurz vor Weihnachten eröffneten Haus der Kulturen anvertraut hat. Mustafa stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Aleppo. Wie andere Gäste des Hauses der Kulturen wird er den gefährdeten Menschen zugerechnet, die besonderen Schutz brauchen. Alle Jungen und Mädchen, die im Haus der Kulturen Unterkunft und Schutz gefunden haben – in enger Zusammenarbeit mit der örtlichen Methodistischen Gemeinde – haben traumatische Erfahrungen hinter sich.
Als 15-Jähriger alleine unterwegs
Amin, ein 15jähriger Junge aus Somalia, reiste allein durch Äthiopien und den Sudan, bevor er an Bord eines alten und unsicheren Bootes ging. Er war drei Monate unterwegs und der Transfer kostete Tausende von Dollar. Unter den Gästen ist auch Yolanda, eine junge Mutter, die von der Elfenbeinküste floh und erst vor wenigen Wochen ihre Tochter Ester Sara im Krankenhaus von Modica zur Welt brachte. Wie andere Gäste erreichte sie Italien übers Mittelmeer auf einem manövrierunfähigen dahintreibenden Schiff. Wie andere Gäste hat sie sexuelle Missbräuche und Gewalt erfahren.
Ein vorübergehendes Zuhause
»Wir sind täglich in Kontakt mit der Präfektur Ragusa und der Kommune Pozzallo«, sagt Giovanna Scifo vom Haus der Kulturen. »Heute haben wir 20 unbegleitete Minderjährige aufgenommen, hauptsächlich Somalis. Wir werden ihnen ein vorübergehendes Zuhause geben und ein Integrationsprogramm beginnen, das auch schulische Inklusion umfasst für einen nachhaltigen Immigrationsprozess«.
Integration und Austausch
Das »Mediterranean Hope«-Projekt hat ein spezialisiertes Büro in Rom, das damit besonders befasst ist. »Aber das Haus der Kulturen will nicht nur ein Aufnahme-Zentrum sein, sondern auch Integration und Austausch schaffen«, erläutert Scifo. »Silvester beispielsweise haben wir eine große Neujahrs-Party organisiert, von mehr als hundert Teilnehmenden besucht, darunter viele Jugendliche aus Scicli. Und während der Weihnachtsferien wurden unsere jungen Gäste von einigen Familien aus Scicli zum Mittagessen oder Abendessen eingeladen – als Ausdruck ihrer Willkommenskultur und Offenheit zum Dialog«.
Sein Traum: ein Arzt in Schweden werden
»Dank dieser Erfahrungen sind wir ermutigt und motiviert, das Projekt weiter zu entwickeln.« Bis zum heutigen Tag ist Mustafa engagiert dabei, Italienisch zu lernen und die Schule zu besuchen. Eigentlich, sagt er, hätte er nur ein paar Tage in Italien verbringen sollen. »Ich war auf meinem Weg nach Schweden, wo mein Onkel lebt«. Sein Traum: »Ein Arzt in Schweden werden«.
Migrationsströme werden beobachtet
Das Phänomen der unbegleiteten minderjährigen Migranten nimmt zu. Es ist schwierig, dies in Zahlen zu fassen. Man schätzt, dass 10.000 unbegleitete Personen in ganz Italien leben. Das Projekt »Mediterranean Hope« umfasst auch eine Beobachtungsstation für die Migrationsströme, die auf der Insel Lampedusa lokalisiert ist.
Die EKvW finanziert eine Sozialarbeiterin
Die Evangelische Kirche von Westfalen unterstützt das Projekt, indem sie eine Sozialarbeiterin im Haus der Kulturen und eine Juristin im Fachbüro in Rom für die Rechtsberatung der Flüchtlinge finanziert. Auf Bitten unserer italienischen Partner nahm ich als Vertreter der westfälischen Kirchenleitung kurz vor Weihnachten an der offiziellen Eröffnung des Zentrums teil.
Zwei Seiten einer Medaille
In einer in Italien viel beachteten Pressekonferenz habe ich nicht nur unsere partnerschaftliche Solidarität zum Ausdruck gebracht, sondern auf Grundlage der Synodenbeschlüsse der EKvW vom November 2014 auch betont: Unsere Kirche sieht ihr eigenes Engagement für Flüchtlinge vor Ort in Westfalen und die aktive Solidarität mit der kirchlichen Flüchtlingsarbeit in den Mittelmeerländern, insbesondere in Italien, als zwei Seiten einer Medaille.
Länderübergreifende Solidarität
Die länderübergreifende Solidarität der europäischen Kirchen in der humanitären und anwaltschaftlichen Flüchtlingsarbeit ist eine besondere Chance und Herausforderung für die Kirchen innerhalb der Europäischen Union. Diese sichtbare Präsenz der deutschen Partner vor Ort in Sizilien ist unseren Partnern auch deshalb besonders wichtig, weil die Neo-Faschisten schon zur Eröffnung des Hauses der Kulturen auf rassistische Weise gegen die Flüchtlinge mobilisierten, versuchten die Pressekonferenz zu stören und in einer fremdenfeindlichen Unterschriftenaktion die sofortige Schließung des neuen Hauses der Kulturen forderten.
Unsere Aufgabe: Fremde willkommen heißen
Für mich ist klar: Die protestantischen Kirchen in Italien zeigen mit ihrem beispielhaften Programm Mediterranean Hope stellvertretend für alle Kirchen innerhalb Europas, was in jüdisch-christlicher Tradition unser aller Aufgabe ist: die Fremden willkommen heißen in unserer Mitte, uns der Flüchtlinge annehmen, Wege zur Integration der Migrantinnen und Migranten zu ebnen.
Die Menschen brauchen unsere praktische Solidarität
Lampedusa, Scicli, Pozzallo – wo Tausende von Migrantinnen und Migranten jeden Monat landen – sind nicht abgelegene und verlassene Winkel im Süden Italiens. Es sind Orte in Europa, die stehen für unsere gesamteuropäische Verantwortung und Solidarität. Es reicht nicht, die Europäischen Institutionen auf diese Orte als Teil Europas hinzuweisen. Sie sind auch Orte, die unser aller ethische Herausforderung symbolisieren. Sie brauchen unsere Fürbitte und unsere praktische Solidarität. In ganz Europa. Auch bei uns in Westfalen.
Deshalb wird die westfälische Landeskirche die Arbeit auch weiterhin finanziell unterstützen. Darum werden sich aus Westfalen in diesem und im nächsten Jahr qualifizierte Freiwillige nach Lampedusa aufmachen – zu unterschiedlich langen Einsätze auf der dortigen Beobachtungstation von »Mediterranean Hope«.
Politikerreise an die EU-Außengrenze
Nicht nur in Italien zeigt sich die Herausforderung an den Mittelmeergrenzen der EU. Deshalb geschieht die Solidaritätsarbeit in enger Abstimmung mit der Kommission der Europäischen Kirchen für Migration (CCME) in Brüssel. Anfang Juni wird eine von der Evangelischen Kirche in Westfalen zusammen mit der Evangelischen Kirche im Rheinland initiierte Politikerreise Politikerinnen und Politiker aller Parteien des NRW-Parlamentes in Düsseldorf zusammen mit EU-Verantwortlichen zu einer internationalen Fachkonferenz mit italienischen Regierungsverantwortlichen, Parlamentariern und Experten nach Rom bringen. Zuvor wird es in Griechenland, Italien und Marokko Vor-Ort-Begegnungen geben, die die Herausforderungen hautnah erlebbar werden lassen.
Bibel gibt klare Richtungsanzeige
Wir erhoffen uns davon zusammen mit unseren Partnerkirchen am Mittelmeer, dass daraus verbindliche Schritte stärkerer gesamteuropäischer Solidarität mit den Flüchtlingen und Zuwanderern folgen. Die Übergänge zwischen Flucht und Migration sind fließend. Kriege, Bürgerkriege und Staatsversagen nehmen immer mehr Menschen die Perspektive auf eine menschenwürdige Entwicklung. Das Zeugnis der Bibel gibt uns eine klare Richtungsanzeige:
»Der Fremde, der bei Euch wohnt, soll für Euch wie ein Mitbürger sein; Ihr sollt den Fremden lieben wie euch selbst.« (Levitikus 19 Vers 34)