Westfälische Präses fordert „Laboratorien künftiger Kirchlichkeit“
Zeitansage: Einfach machen!
SynodeAKTUELL Nr. 2/2023
„Einfach ist hier nichts.“ Das war das Resümee, zu dem die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, bei der kürzlich zu Ende gegangenen landeskirchlichen Visitation im Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid gekommen war. Den Rückblick auf den mehrtägigen Besuch kirchlicher Arbeit im Ruhrgebiet stellte die Präses ihrem Bericht voran, mit dem der erste Sitzungstag auf der Frühjahrstagung der westfälischen Landessynode begann. Vier Tage lang beraten 191 Synodale aus ganz Westfalen in Bielefeld über Themen aus Kirche und Gesellschaft.
„Einfach ist hier nichts.“ Das Kurzresümee erwies sich für alle Themenfelder, die Annette Kurschus in ihrem umfänglichen Präsesbericht ansprach, als zutreffend. Für Christinnen und Christen gelte es, in einer Welt voller Widersprüche mündig und erwachsen zu werden, in der Nachfolge Christi „mutig etwas zu wagen, mit Kopf und Herz etwas zu riskieren – auch und gerade dann, wenn der Ausgang noch nicht zweifelsfrei abzusehen und der Erfolg keineswegs sicher ist“, sagte die Präses.
Sie erinnerte an die biblische Erzählung von Christi Himmelfahrt. Darin seien die Jünger, gelähmt vom Schreck, dass ihnen Jesus abhandengekommen war, von zwei Engeln ermahnt worden: „Was steht ihr da und starrt zum Himmel?“ Damit, so die Präses sei wohl gemeint gewesen: „Verliert euch nicht in himmlischen Spekulationen … beamt euch nicht weg in ein geistliches Wolkenkuckucksheim! Schaut darauf, was hier und jetzt dran ist!“
Und Probleme, so beschrieb es die Präses, gebe es derzeit in der westfälischen Kirche mehr als genug. Angefangen bei der notwendigen Konsolidierung von Haushalten über die abnehmende Zahl von Mitarbeitenden und Mitgliedern, die Reduzierung bzw. Sanierung des Gebäudebestands bis zu Digitalisierung, Klimaschutz, dem Schutz vor sexualisierter Gewalt und vielem mehr. Kurschus betonte hier die Genauigkeit der Sprache: „Wir könnten, wir sollten, wir müssten – all das wird nicht reichen. Nein, wir müssen!“ Neben den kircheneigenen Problemen ständen ebenso prominente Fragen der Gesellschaft: „Die Friedensfrage, die Klimafrage, die soziale Frage, die Bildungsfrage, die Demokratiefrage, die Fragen nach Flucht und Migration, nach Aufnahme und Willkommen.“
Annette Kurschus hob in diesen Zusammenhängen den Einsatz unzähliger Haupt- und Ehrenamtlicher in der westfälischen Kirche hervor, die unermüdlich um Problemlösung bemüht seien. Und sie verwies auf die Zusage Gottes bei allen Aufgaben und anstehenden Problemen: „Ich bin bei euch. Ich lasse euch nicht im Stich.“ Und: „Ich selbst bin es, der die Kirche erhält.“
Gerade bei ihren Besuchen in Gelsenkirchen und Wattenscheid habe sie viele engagierte Menschen erlebt, die aktiv geworden seien, ohne der Versuchung zu erliegen, kleine Versuche und Initiativen zu verachten. Die Devise laute: „Einfach machen!“ Das aber, so die Präses, bedeute nicht, „aktionistisch drauflos wurschteln, ohne Konzept, ohne Sinn und Verstand.“ Vielmehr beinhalte diese Haltung jene Beherztheit, die das Halbfertige akzeptiere und nicht abwarte, bis alles von A bis Z ausbuchstabiert sei.
Nach wie vor, so Kurschus, könne sich die Kirche sehen lassen mit ihrer sozialdiakonischen Arbeit, auch mit den zahlreichen Initiativen zum Schutz und zur Unterstützung von Menschen mit Migrationsgeschichte. Solche sozialdiakonische Arbeit müsse einhergehen mit einer klaren Haltung gegenüber der Politik. „Denn die Worte und Kräfte und Maßnahmen in Europa, die sich gegen Flüchtende richten, werden zunehmend stärker und rauer“, beklagt die Präses. Mit manchen geplanten Härten lege Politik Flüchtlingsschutz zunehmend als Schutz vor Flüchtlingen aus. Bei allem Verständnis für das Konfliktpotential, das die Aufnahme von Geflüchteten berge, auch für die Probleme der Städte, denen es an Geld und Plätzen fehle und auch angesichts der Tatsache, dass Zuwanderung demokratieverträglich zu gestalten sei, müsse die Kirche klar Stellung beziehen: „Wir müssen höchst alarmiert sein, wenn rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte so ausgehöhlt zu werden drohen, dass sie keine mehr sind“, postulierte Annette Kurschus. „In Europa gilt die Stärke des Rechts, nicht das Recht des Stärkeren. Das muss so bleiben.“ Die Kirchen seien starke Partnerinnen für die Verantwortlichen in der Politik, die sich für eine humane Flüchtlingspolitik einsetzten.
Einfach sei es, wie in all den anderen Problemfeldern, auch nicht, wenn es um die Haltung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine gehe. Seit Beginn des russischen Überfalls sei es ihr ein Anliegen, die ethische Zumutung zu beschreiben, die damit aufgenötigt sei. „Wir müssen zwischen lauter schlechten Möglichkeiten das kleinere Übel suchen“, beschrieb Annette Kurschus das Ringen um Einschätzungen. „Klar ist: Christen können nur gegen den Krieg sein.“ Doch wie dieser zu verhindern oder zu beenden sei, sei weit weniger klar. „Daher wiederhole ich auch heute: Ich weigere mich, Jesus einseitig für oder gegen Waffenlieferungen, für oder gegen Pazifismus in Anspruch zu nehmen“, bekräftigte die Präses. Sie weigere sich, „das mühsame Ringen mit Argumenten und dem eigenen Gewissen durch schmissige Bibelzitate abzukürzen.“
Dass Deutschland die Ukraine militärisch unterstütze, halte sie für ethisch vertretbar, sagte Annette Kurschus. Man dürfe jedoch aus christlicher Sicht ein Ende des Krieges nicht aus den Augen verlieren. Die Zeit sei reif, moralisch-gesinnungsethische und völkerrechtliche Maximalforderungen hintanzustellen. „Die Zeit ist auch reif, nach den Bedingungen, den Kompromissen und den Kosten eines Waffenstillstands zu fragen und diese Frage ins Zentrum aller Überlegungen zu stellen“, postulierte die Präses. „Darin liegt die Freiheit des Evangeliums: Sie zeigt uns, dass das Gesetz, das Leben will, nicht den Tod bringen darf.“ Man werde nach Kompromissen suchen müssen und dabei unangenehme Fragen zu diskutieren haben: „Was ist die Freiheit wert, was ist uns die Freiheit wert? Konkret heißt das: Welche Sicherheitsgarantien sind wir bereit zu leisten? Diese Fragen müssen zeitnah politisch geklärt werden, damit es möglichst bald zu einem Waffenstillstand kommen kann“, so Kurschus.
In Bezug auf die schwindende Mitgliederzahl in der Evangelischen Kirche beschrieb Annette Kurschus unterschiedliche Impulse: „die Kränkung, alleingelassen zu werden. Das Gefühl, die eigene Anstrengung sei vergeblich. Die Sorge, dass unsere Einnahmen nicht mehr tragen – und auch nicht das Gute, das wir damit tun.“ Da sei es gut, sich Zeit zu nehmen: um genau hinzusehen und hinzuhören, um sorgfältig nachzudenken und aufmerksam nachzufragen. Das, so die Präses, habe die westfälische Kirche getan und in einem repräsentativen Monitoring Menschen befragt, die aus der Kirche ausgetreten seien. Dabei sei eindeutig bestätigt worden: Gottesbeziehung und Kirchenbindung seien nicht kongruent zur Mitgliedschaft. „Es gibt Kirchenmitglieder, die keinerlei Bezug zum Glauben haben – und Ausgetretene, die sich sehr wohl als gläubig bezeichnen“, berichtete die Präses. Sämtliche landeskirchlichen Ausschüsse würden sich mit den Ergebnissen der Erhebung befassen.
Annette Kurschus wandte sich gegen eine Form von „Schrumpfungskitsch“, der behaupte, Kirche könne mit weniger Mitgliedern wahrhaftiger, inniger, womöglich gar frömmer werden. Auch eine „vorauseilende Selbstverzwergung“ sehe sie nicht. Vielmehr werde jede und jeder, der oder die austrete, der Kirche fehlen, nicht nur, weil das Geld der Kirchensteuer abgehe und die Arbeit mühsamer und anstrengender werde, wo Kräfte fehlten. „Dennoch – und jetzt erst recht! – haben wir weiterhin die Aufgabe, das nahe herbeigekommene Reich Gottes in die Welt zu tragen“, stellte Kurschus klar.
Auch in Bezug auf die häufig diskutierte Befassung mit dem möglichen Wegfall tradierter ‚Staatsleistungen‘ gelte: „Einfach ist das nicht!“ Die Gespräche unter Federführung des Bundesinnenministeriums seien vertrauensvoll, berichtete die Präses, doch die Modalitäten seien kompliziert und die Einigung letztlich Sache der Länder. Von Seiten der Evangelischen Kirche stellte Annette Kurschus klar: „Wir Kirchen haben uns bereiterklärt, konstruktiv an der Ablösung der Staatsleistungen mitzuwirken. Dazu stehen wir.“ Ihr Fazit: „Kurzum: Wir wollen raus aus den Staatsleistungen.“
Auf vielen Ebenen gestalte man zurzeit in der Kirche Verlust und Verzicht, sagte die Präses. Dennoch werde die Kirche gerade in immer rauer und unübersichtlicher werdenden Zeiten an vielen Stellen der Gesellschaft unverzichtbar, zudem ergäben sich immer mehr Kooperationen. „Verlässlich da sein als Stütze für Zivilgesellschaft und Demokratie: Darauf kommt es an, mehr denn je“, zeigte sich die westfälische Präses überzeugt.
Annette Kurschus wünschte sich immer mehr Orte als Laboratorien künftiger Kirchlichkeit. „Wir brauchen eine Haltung, die experimentierfreudig und dabei fehlerfreundlich ist“, sagte die Präses, „frei von der unseligen Leier: früher war alles besser.“ Ihre Zeitansage auf der Synodentagung: Einfach machen! „Wir packen es an mit der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Diese Kraft kommt von Gott, und sie hat Gottes Verheißung.“