#DEKT: Jan-Dirk Döhling hält Bibelarbeit auf dem Kirchentag
Von der Umbuchung zum Guten
Eigentlich war sie als Dialogbibelarbeit geplant. Gemeinsam mit der westfälischen Präses Annette Kurschus wollte Landeskirchenrat Jan-Dirk Döhling eine der großen Bibelarbeiten halten, mit denen jeder Programmtag auf Deutschen Evangelischen Kirchentagen beginnt. Aber aus dem Dialog wurde ein Solo. Weil Annette Kurschus wegen einer akuten Corona-Erkrankung ihre Reise nach Nürnberg kurzfristig absagen musste, hielt Jan-Dirk Döhling die gemeinsam vorbereitete Bibelarbeit in der Meistersingerhalle allein.
Vorgegebener Bibeltext für den Kirchentags-Freitag war die Geschichte von Josef und seinen Brüdern aus dem 1. Buch Mose (1. Mose 50, 15-21). Josefs Brüder hatten ihn, den Träumer und Lieblingssohn des Vaters, einst nach Ägypten in die Sklaverei verkauft. Dem Vater suggerierten sie, er sei von wilden Tieren getötet worden. Nach vielen Jahren, in denen Josef im fremden Land eine Familie gegründet hatte und ein einflussreicher Mann geworden war, bekannten die Brüder ihr unrechtes Tun. Inzwischen selbst in Ägypten in Not geraten, sandten sie einen Boten. Josef, von den Brüdern zunächst unerkannt, hörte, was sie vorbrachten und gab sich erst zu erkennen, als er sah, wie einer der Brüder für den anderen, jüngeren eintrat.
Der Bibeltext, so Döhling, lasse offen, ob Josef sich wirklich die Versöhnung gewünscht habe. Vielleicht stehe hinter der Deutung als sich zum Happy End wendende Familientragödie, wie die Geschichte gerne im Kindergottesdienst und auch in anderen Kontexten erzählt werde, oft nur die Hoffnung, „dass am Ende alles gut wird.“
Die Bibel hingegen sei an vielen Stellen schonungslos realistisch. Sie zeige stets, dass die Menschheit aufeinander angewiesen und auch voneinander verwundet sei. Dabei erzählt sie wenig versöhnliche Geschichten, etwa wenn Kain seinen Bruder Abel umbringt, weil er seinen Neid nicht unter Kontrolle bekommt. Da verbiete sich die oft leichtfertige, weil leicht fertige, Art, von Versöhnung zu reden, mahnte Jan-Dirk Döhling.
Es sei keinesfalls „alles gut“, wie es eine modern gewordene Floskel suggeriere. Das gelte für die Geschichte von Josef, umso mehr in ihren Übertragungen auf die heutige Lebenswelt. ‚Josef und seine Brüder‘ sei im Kern keineswegs nur eine tragische Familiengeschichte, so Jan-Dirk Döhling. Sie trage vielmehr deutlich politische Dimensionen. Allein die Tatsache, dass die Brüder von einer Hungersnot geplagt in Ägypten Hilfe suchten, weise die Erzählung als Migrationsgeschichte aus. Sie verweise auf das Recht von Geflüchteten in einem fremden Land und berichte zugleich vom Leiden der Völker und ihrem Willen zum Überleben.
Ob wirklich der Wunsch auf Versöhnung am Ende ausschlaggebend sei, lasse sich aus dem biblischen Text nicht belegen, sagte Döhling. Gottes Antlitz habe aber zumindest die Dynamik der Rache gestoppt. Im Hinblick auf jegliche menschliche Auseinandersetzung stellte Döhling die Frage: „Gibt es eine Versöhnung, die kein Verrat ist?“ Auch die Option, dass die Brüder lediglich der Situation geschuldet und ohne ihn tatsächlich zu belegen vom vermeintlichen Wunsch des Vaters berichtet hätten, der sich auf dem Sterbebett die Versöhnung unter den Brüdern gewünscht habe, sei denkbar. Jan-Dirk Döhling zitierte jedoch einen rabbinischen Schluss zu der biblischen Erzählung: „Man darf des Friedens wegen von der Wahrheit abweichen.“
Vielleicht, so der Bibelarbeiter, sei es Menschen nur möglich, die Welt ein wenig weniger gewaltvoll zu machen, als sie zuvor war. „Kann es jetzt helfen, die Grenzen weichgezeichnet zu lassen, und die Worte vage?“ formulierte er eine daraus folgende Frage. Das sei durchaus auch auf den Wunsch nach einer herbeigesehnten Waffenruhe in der Ukraine zu beziehen.
Vergebung, so der Bielefelder Theologe, sei die Sache Gottes. Ihm allein gelinge, wie auch im Verhältnis von Josef und seinen Brüdern, die Umbuchung vom Bösen, von erlittenem Unrecht und Leid etwa, zum Guten. Überall da, wo ein heilender Perspektivwechsel möglich werde, sei Gott allemal am Werk, sagte Döhling. Und Gottes Wirken sei stets da heilsam, wo keinerlei Logik mehr zu erkennen ist. „Und das brauchen wir heute nötiger denn je.“
Die Zuhörer in der Nürnberger Meistersingerhalle goutierten die Bibelarbeit des Bielefelder Landeskirchenrats mit anhaltendem Beifall. Sie hatten eine tiefsinnige, anspruchsvolle Auslegung des Bibeltextes erlebt, die sie zum Start in den zweiten Programmtag des Kirchentages beflügelte.