Im Ratsbericht vor der EKD-Synode nimmt Annette Kurschus Stellung zu Antisemitismus, Migration, Klimawandel und der Kraft des Gottvertrauens
„Zuflucht haben in allen Nöten“
Zum Auftakt der in Ulm tagenden Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat Präses Annette Kurschus am Sonntag (12. November) Stellung bezogen zu den aktuellen Krisen in Deutschland und weltweit und zugleich für die Kraft des Gottvertrauens geworben.
„Selten war die Hoffnung so kleinlaut und schwindsüchtig, selten waren unsere Gewissheiten so labil und zerbröselt wie in diesen Zeiten, da sich Krise an Krise reiht und Unheil auf Unheil türmt“, so Kurschus. Die Welt brauche den Überschuss an Halt und Hoffnung und Gewissheit, der durch die biblischen Psalmen und Gebete ins Leben komme. Dies gelte insbesondere nach den Gräueltaten der Hamas in Israel. Sie sei entsetzt, „wie schnell nassforsch verharmlosende Kontextualisierungen bei der Hand waren; wie unangefochten die üblichen Sprechblasen vorgetragen wurden. Als sei die Welt kaum berührt durch dieses Abschlachten von Jüdinnen und Juden.“ Die Hamas sei keine Befreiungsbewegung. „Sie ist eine antisemitische Terrororganisation, die jüdisches Leben austilgen will, wo immer es ihr begegnet. Und: Sie ist eine tödliche Geißel für die leidenden Menschen in Gaza.“ Der Angriff der Hamas sei zugleich ein Angriff auf die Palästinenserinnen und Palästinenser gewesen, die sich für Frieden und Verständigung einsetzen. „Es ist töricht, und darum mache ich dabei nicht mit, die Solidarität mit Israel und die Empathie für die palästinensischen Opfer in ein Entweder-Oder zu zwingen.“ Es sei „keine Entsolidarisierung mit Israel, völkerrechtliches Augenmaß, humanitäre Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu fordern. Die politisch Handelnden müssen alles dafür tun, sichere Zonen und Zeiten zu schaffen und die Menschen mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen“, so die Ratsvorsitzende.
In Deutschland müsse das kirchliche Augenmerk auf dem beängstigenden Antisemitismus, der Angst und der Trauer jüdischer Menschen in unseren Nachbarschaften liegen: „Sie dürfen nicht den Hauch eines Zweifels haben, dass sie auf die Kirchen zählen können. Auf allen Ebenen gibt es vertrauensvolle Kontakte, wir stehen Jüdinnen und Juden zur Seite und fragen sie, wie wir ihnen helfen können. Darin dürfen wir nicht nachlassen, mehr noch, wir müssen nachlegen darin.“
Zugleich rief sie dazu auf, antimuslimischen Ressentiments zu widerstehen. Der Versuch, Hass auf Muslime als Israelfreundlichkeit zu tarnen sei in Wirklichkeit purer Rassismus. „Und unser Glaube drängt uns, dagegen sehr deutliche Worte zu sagen.“
In Ihrem Bericht bekräftigte die Ratsvorsitzende das kirchliche Engagement für Geflüchtete. Kirche und Diakonie hätten sich seit 2015 und bereits zuvor intensiv und unermüdlich für geflüchtete Menschen engagiert, seit 2022 zusätzlich für diejenigen, die aus der Ukraine kommen: mit Sprachkursen im Gemeindezentrum und gemeindlichen Kleiderkammern; mit psychosozialer Beratung in Sammelunterkünften und einem bundesweiten zivilgesellschaftlichen Aufnahmeprogramm in Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. „Wir wissen nicht nur, wovon wir reden – wir kennen viele von denen, über die neuerdings in einer Weise geredet wird, die mich zutiefst erschüttert.“ In perfider sprachlicher Verdrehung werde aus den Ertrinkenden die Flut gemacht und aus den Schiffbrüchigen die Welle, die angeblich uns überschwemme. „Da wird von „Zahlen“ gesprochen, die jetzt dringend „runter müssen“. Als ginge es um eine mittelschwere Matheaufgabe. „Wer von Migration redet, redet von Menschen und damit letztlich auch von sich selbst, vom eigenen christlichen oder humanistischen Menschenbild und davon, wie ernst es ihm oder ihr damit ist. Ich jedenfalls lasse mir die Barmherzigkeit nicht ausreden und werde andere weiterhin an die Barmherzigkeit erinnern“, sagte Kurschus.
Auch in der Klimadebatte sei das gesellschaftliche Klima so überhitzt wie das Klima selbst. Die Apokalypse werde beschworen, um Panik zu machen, wo es dran wäre, unaufgeregt und konsequent weiterzugehen. Die biblische Apokalyptik hingegen sei „Protest- und Hoffnungsrede im Angesicht einer Welt, in der alles ins Chaos zu stürzen scheint. Sie öffnet schonungslos den Blick auf die Welt, wie sie ist. Mit all ihren Schrecken und Hässlichkeiten und Abgründen.“ Und sie decke Ursachen und Verantwortlichkeiten auf. „Die ökologische Krise ist sowohl von ihren Ursachen her als auch in ihren Folgen ein Problem sozialer Gerechtigkeit. Es ist nicht nur gerecht, sondern auch klug, beides zusammenzudenken, regional und global – mit apokalyptischem Ernst und unaufgeregter Zuversicht“, so Annette Kurschus.
Mit Blick auf die für Dienstag auf der Synode vorzustellende Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hob die Ratsvorsitzende die Bedeutung des Glaubens für die menschliche Vertrauensbildung hervor: „Anscheinend produziert der Glaube so etwas wie einen stärkenden Vertrauensvorschuss, bildet eine Art Vertrauensbank fürs Leben.“ Nur eine Kirche, die mit ihrem kirchlichen Leben Menschen Zeit einräume, Vertrauen in Gott zu fassen, habe begriffen, worin der Kern ihrer Aufgabe liegt. „Dazu braucht es zuallererst unser eigenes Vertrauen in die göttliche Kraft, die uns trägt.“