Jahreslosung 2019
Präses Dr. h. c. Annette Kurschus zur Jahreslosung 2019

Suche Frieden und jage ihm nach!

(Psalm 34,15)

Unwillkürlich horche ich auf.
Frieden schaffen, Frieden stiften, Frieden machen, Frieden halten – das alles klingt vertraut.
Aber: Frieden suchen, dem Frieden nachjagen? Hat er sich denn versteckt, der Friede? Ist er auf der Flucht?

Hochinteressant für mich ist eine weitere Entdeckung: „Jage ihm nach“, da findet sich dasselbe Verb wie in dem schönen und vertrauten Satz des 23. Psalms: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang“ (Psalm 23,6).
So, wie Gottes Güte und Barmherzigkeit mir lebenslang nachjagen, so beharrlich soll ich hinter dem Frieden her sein. Und umgekehrt: So gewiss, wie ich mich auf die Güte und Barmherzigkeit Gottes verlassen kann, so gewiss soll der Friede sich auf mich verlassen können. 
Das ist eine ungewohnte Vorstellung und ein reizvolles Bild; ein geradezu kühner Perspektivwechsel: Der Friede – unerschütterlich von mir verfolgt; der Friede – nicht eine Minute ohne mich; der Friede – er hat mich buchstäblich im Nacken, er wird mich nicht los.

Wie kann das aussehen in diesem Jahr 2019: Dass der Friede uns im Nacken hat, dass der Friede uns nicht los wird?

 

Wenn uns der Friede nicht loswerden soll, wenn wir ihm im Nacken sitzen wollen – dann brauchen wir zuallererst lebendige Vorstellungen und verlockende Bilder von ihm.

Präses Dr. h. c. Annette Kurschus Präses Dr. h. c. Annette Kurschus

Kürzlich las ich von einem aufschlussreichen Experiment. Da gab man Kindern ein weißes Blatt Papier mit der Aufgabe, sie sollten auf der einen Hälfte den Krieg und auf der anderen Hälfte den Frieden malen. Das Ergebnis zeigte: Die Kriegsseite war bei allen Kindern voll. Zum Krieg fiel ihnen sichtbar eine Menge ein; Bilder voller Aktion zu Wasser, auf dem Lande und in der Luft. Die Friedensseite dagegen blieb bei vielen ganz leer. Manche Kinder hatten lustvoll auch dorthin wieder die Kriegsbilder gemalt – und dann durchgestrichen. Andere beschränkten sich auf ein Symbol, eine Taube etwa oder eine Blume. Und wo vereinzelt doch die Friedensseite breit ausgemalt war, da sah man ein kleines Häuschen mit Schornstein und Garten, grünes Gras mit bunten Blumen, ein Eichhörnchen dazu – kurzum: Eine romantisches Standardbild langweiliger Idylle.

Erschütternd eigentlich: Die Aufgabe, Frieden ins Bild zu setzen, erzeugte ein leeres Blatt, erschöpfte sich in der Negation des Krieges oder in betulichen Klischees. Vermutlich gibt es diese Verlegenheit nicht nur bei Kindern. Denken wir nur an die Geschichte der Kunst: Da sind zum Beispiel die Höllenbilder voller Schrecken und Gewalt in der Regel sehr viel ausdrucksstärker als die Darstellungen des himmlischen Friedens.

Wenn uns der Friede nicht loswerden soll, wenn wir ihm im Nacken sitzen wollen – dann brauchen wir zuallererst lebendige Vorstellungen und verlockende Bilder von ihm.

...ganz und gar nicht harmlos und rosarot

Frieden - Schalom: Als Grundbedeutung der hebräischen Wortwurzel wird „genug haben“ vermutet.
Frieden hieße dann: Menschen – und zwar ausnahmslos alle Menschen! – haben genug, allen geschieht Genüge, alle erfahren Genugtuung und können vergnügt sein.
Dazu kann ich mir tatsächlich jede Menge Bilder vorstellen.

Bilder, deren Kontext ganz und gar nicht harmlos und rosarot ist. Um die man sich doppelt mühen muss: Sie suchen und ihnen nachjagen. Unermüdlich.
Kann es überhaupt Schalom geben zwischen Menschen, die mehr als genug haben, und anderen, denen es am Nötigsten fehlt? Frieden ist eng mit Gerechtigkeit verwandt. Und diese Verwandtschaft ist hoch fragil! 

Wie oft wird Ungerechtigkeit „um des lieben Friedens willen“ hingenommen. Und wie schnell kann der Einsatz für Gerechtigkeit zu Unfrieden und Gewalt führen. Frieden ohne Gerechtigkeit kann Unrecht zementieren, und Gerechtigkeit ohne Frieden kann über Leichen gehen.
Alle haben genug, allen geschieht Genüge, alle erfahren Genugtuung und können vergnügt sein: Haben wir tatsächlich Bilder dazu? Oder bleibt da, wie bei den Kindern, ein leeres Blatt?
 
Ein völlig anderes Bild des Schalom ist der alte Abraham. Ihm wird verheißen, er werde „in Frieden“ zu seinen Vorfahren eingehen (Genesis 15,15). Das meint wohl kaum, er werde nicht im Krieg fallen. Ebenso wenig stellt es in Aussicht, er werde einmal friedlich einschlafen. Es meint vielmehr, er werde vom Leben gesättigt sterben – nicht, weil er das Leben satt habe oder vom Leben genug, sondern weil er im besten Sinne des Wortes genug gelebt habe. Wie viele Menschen mögen sich nach einem solch friedvollen „Genug“ an Leben sehnen? Es hat mit der Zahl der Lebensjahre wenig zu tun. Und wenn wir es spüren, solch friedvolles „Genug“, welch ein Segen geht davon aus! Ob sich Bilder an erlebte Situationen bei Ihnen einstellen? Ob uns dieses Jahr neue Bilder schenken wird?

Lassen Sie nicht nach, den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen. Bleiben Sie ihm im Nacken, dem Frieden – und leben Sie so, dass der Friede sich auf Sie verlassen kann.
Denn: Der, der unser Friede ist und seine Hand über uns hält, jagt Ihnen mit seiner Güte und Barmherzigkeit schon längst und schon immer und unermüdlich nach. Nicht nur im Jahr 2019, sondern ein Leben lang. „Und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar“ (Psalm 23,6).
Gibt es einen gewisseren Grund, um dem Frieden auf der Spur zu sein?

Dr. h. c. Annette Kurschus,
Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen 

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Die Jahreslosungen

Die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) wählt aus dem von ihr erstellten ökumenischen Bibelleseplan des jeweiligen Jahres ein Bibelwort als Jahreslosung aus.
Die Losung wird immer drei Jahre im Voraus bestimmt. Die erste Losung wurde 1930 ausgewählt.

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