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Landessynode 2021: Präses Annette Kurschus regt an, sich neu auf die schöpferischen Kräfte des Gebets zu besinnen

Kein „Genauso wie früher“ nach der Pandemie

SynodeAKTUELL Nr. 3/2021
 

„Dieser Tage, da Inzidenzwerte kontinuierlich sinken und Impfraten hoffnungsvoll steigen, ertappe ich mich immer häufiger beim Träumen - mitten am Tag. Wie wird das sein, wenn wir endlich wieder können und dürfen, was wir so lange vermisst und entbehrt haben?“, fragte Präses Annette Kurschus am Montag (31. Mai) zum Auftakt der westfälischen Landessynode, die wegen der Corona-Pandemie digital stattfindet.

Ein „Genauso wie früher“ werde es nicht geben. Kurschus rief dazu auf, genau auf die Risse und Baustellen in unserer Kirche und in unserer Gesellschaft zu schauen und so den Traum von der Rückkehr in ein Leben nach der Pandemie zu erden.

Die leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) nahm in ihrem mündlichen Bericht Bezug auf das biblische Buch Nehemia, worin vom Neuanfang des Volkes Israel nach der Zeit des Babylonischen Exils erzählt wird. Im Lichte dessen benannte sie, „worauf es aus meiner Sicht ankommt, worum es gehen wird und worauf wir zu achten haben, wenn wir uns in den kommenden Wochen den Pandemieschlaf aus den Augen reiben und in Kirche und Gesellschaft Schritt für Schritt unser ‚altes‘ Leben wieder aufnehmen werden.“

Präses Kurschus setzte in ihrem Bericht vor der Synode einen starken theologischen Schwerpunkt, den sie mit aktuellen Themen und Fragestellungen verband. „Die Pandemie hat uns in beinahe allen Lebensbereichen vor Augen geführt, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind, wie brüchig unsere Lebensverhältnisse und wie bedürftig wir selbst“, sagte Kurschus und betonte die Kraft des Gebets, gerade in Momenten der Ohnmacht und Verletzlichkeit: „Ich werbe dafür, die schöpferischen Kräfte des Gebets zu stärken und neu ins Bewusstsein zu heben. Das Gebet verdient größte Aufmerksamkeit in der liturgischen Gestaltung unserer Gottesdienste und Andachten. Wir sollten ihm in der Vorbereitung mindestens ebenso viel Sorgfalt widmen wie der Predigt. Das Gebet braucht seinen leisen und heilsamen Ort in der seelsorglichen Begegnung. Im Gebet, im Gegenüber zu Gott, stoßen wir womöglich auf Gottes wegweisende Spuren in unserer verwirrenden Zeit, im eigenen Leben.“

Selbstkritischer Blick zurück

Ein wichtiges Anliegen ist der leitenden Theologin, selbstkritisch festzustellen, „welche Not wir im Rückblick nicht ernst genug genommen haben, auf welchem Auge wir blind und auf welchem Ohr wir taub waren“, sagte sie: „Aus meiner Sicht hätten wir – um ein konkretes Beispiel zu nennen – für Menschen, die in sozialen Brennpunkten leben, viel früher unsere Stimme erheben müssen. Ohnehin von Armut und Ausgrenzung stigmatisiert, wurden sie durch ihr Zusammenleben auf engstem Raum in weitaus größerer Zahl Opfer der Pandemie als Menschen in saturierten Lebensverhältnissen.“

Auch die Fortschritte, die über Jahrzehnte im Blick auf Ernährung, Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen, Menschenrechte und Umweltschutz errungen wurden, seien vielerorts in Frage gestellt oder ganz zunichte gemacht worden. „Irgendwann wird die Frage zu beantworten sein, wie die immensen Ausgaben während der Krise gegenfinanziert werden sollen – und von wem. Längst nicht jeder Buchladen und jedes Fitness-Studio werden wieder öffnen können. Längst nicht jeder Chor wird sich wie zuvor zum Proben treffen – und manches Theater wird geschlossen bleiben“, so Kurschus. „Nicht zu vergessen die Menschen in unserem Land und weltweit, die nie mehr ein Buch lesen, nie wieder singen, nie mehr Freunde und Freundinnen treffen werden – weil das Virus sie ihr Leben gekostet hat. Viele von ihnen waren auf ihrem allerletzten Weg allein.“ Es sei buchstäblich not-wendig, aufmerksam, vorbehaltlos und mutig in den Blick zu nehmen, „wie es anders weitergehen kann und soll und was nicht weitergehen darf wie bisher“.

Neue Gottesdienstkultur

Zu Nehemias Mission gehört der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels: „Auf, lasst uns bauen!“ Diesen Ruf bezieht die Präses auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch und fragt nach den Veränderungen innerhalb der Gottesdienstkultur. „Die Kultur unserer Gottesdienste hat eine historische Zäsur und tiefgreifende Veränderungen erfahren. Was wir dadurch hinzugewonnen und was wir womöglich auch verloren haben, ist derzeit noch kaum zu übersehen“, sagte Annette Kurschus. „Welch einen Einsatz gab es in unseren Gemeinden und Kirchenkreisen, in unseren Ämtern und Einrichtungen, welch verblüffende Spontaneität und Beweglichkeit, was für schöne und verrückte Ideen! Das hat jede Menge Kräfte gekostet – und auch jede Menge ungeahnter Kräfte freigesetzt. Mich hat das ehrlich beeindruckt, vielen Dank.“ Digitale Formate sollen Teil der Gottesdienstkultur bleiben.

Die Sehnsucht werde aber immer größer, in der Kirche mit anderen zusammen Gottes Nähe zu feiern „und auf Worte zu hören, die wir uns selbst nicht sagen können“. Die Kirche als Leib Christi sei aber auch „Körperkirche“, die Menschen leibhaftig verbinde und miteinander in Austausch bringe. „Vielleicht haben wir durch die Pandemie neu entdeckt, welche Bedeutung die Leiblichkeit für unser alltägliches Leben hat.“

Respekt und Anerkennung

Die biblische Nehemia-Erzählung richtet den Blick auf die Menschen, die mit anpacken. „Auch gegenwärtig müssen wir dafür sorgen, dass Menschen sichtbar bleiben und einen Namen haben. Energischer denn je müssen wir heute für Respekt und Anstand eintreten gegenüber denen, die ‚ihre Hände zum guten Werk stärken‘, beruflich oder ehrenamtlich, in Medizin und Pflege, bei der Polizei und in Rettungsdiensten, in Verbänden, Sport- und Musikvereinen, in Chören und Kirchengemeinden, in Synagogen und Moscheen, in der Politik. Wir werden sie verteidigen gegen plumpe Pöbeleien und Hass im Netz und auf der Straße. Und selbstverständlich auch gegen jede Form von Antisemitismus, der sich Christinnen und Christen aus der Mitte ihres Glaubens heraus verbieten müsste und verbieten muss“, machte die Präses in ihrem Bericht deutlich.

Ein neuer Generationenvertrag für unsere Gesellschaft

Für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei entscheidend, so Präses Kurschus, dass wir die Hauptlast des Klimawandels nicht länger auf die Zeit nach 2030 schieben und damit Kindern und Kindeskindern aufzubürden. „Hier geht es um mehr als eine buchstäblich notwendige Korrektur einzelner Klimaziele und -maßnahmen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. April ist ein Fingerzeig für einen neuen Generationenvertrag, der Schluss macht mit der Kurzatmigkeit unserer Lebensentwürfe und unseres Wirtschaftens. Denn – auch das hat uns die Pandemie aufs Neue gelehrt – wir atmen alle dieselbe Luft, nur eben unterschiedlich sauber und unterschiedlich lang.“ Für Gemeinden und Kirchenkreise, Ämter und Werke der EKvW werde die Herbstsynode am 12. und 13. November konkrete Vorschläge für Klimaschutzkonzepte entwickeln und vorlegen. „Auch und erst recht für uns Verantwortliche in der Kirche geht es nicht an, Lasten einfach weiterzureichen an jüngere Generationen“, sagte Kurschus.

Menschen Schutz gewähren

Kurschus erinnerte daran, dass sich die Genfer Flüchtlingskonvention am 28. Juli 2021 zum 70. Mal jährt. „Darin geben sich die Länder Europas rechtlich verbindliche Regeln darüber, dass und wie Menschen Schutz zu gewähren ist, die aufgrund ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer sozialen oder ethnischen oder politischen Zugehörigkeit verfolgt werden. Eine Zurückschiebung in die Situation der Not ist in der Konvention ausdrücklich verboten“, betonte die Präses. Die Genfer Konvention sei das verbindend Verbindliche und der kleinste gemeinsame Nenner in Europa. „An Orten wie Moria, Bihac, Ceuta und Lampedusa wie auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Zentralen Unterbringungseinrichtungen in unserem Bundesland, aus denen mich irritierende Nachrichten erreichen, entscheiden sich nicht nur persönliche Geschicke einzelner Menschen. Dort entscheidet sich jeweils auch, wer wir sind und wie wir dastehen und was von unseren Bekenntnissen zu Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Barmherzigkeit zu halten ist.“

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