‚Zeitansage‘ von Annette Kurschus beim Johannisempfang der EKD in Berlin
Der beharrliche Mut, schwach anzufangen
Evangelische Kirche und Diakonie werden auch in Zukunft verlässlich einfach da sein, „nicht für sich selbst, sondern als Stütze für die Gesellschaft und die Demokratie.“ Das bekräftigte die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), Annette Kurschus, in ihrer Rede beim Johannisempfang der EKD, der traditionell am 21. Juni in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt stattfand.
Unter den Gästen aus Kirche und Politik waren neben zahlreichen Bundestagsabgeordneten unterschiedlicher Fraktionen auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundeskanzler Olaf Scholz.
Kurschus beschrieb in ihrer ‚Zeitansage’, die sie den Gästen in der Friedrichstadtkirche nahebrachte, diverse „Herkulesaufgaben“, vor der Kirche und Gesellschaft gegenwärtig ständen. Dabei nahm sie Bezug auf eine monumentale Herkulesfigur in Gelsenkirchen, einer Stadt, die sie als Leitende Geistliche der westfälischen Kirche kürzlich besucht hatte. Dort, in einer Ruhrgebietsregion mit extrem hoher Arbeitslosigkeit und außerordentlichen sozialen Problemen, habe sie die bodenständige, gar nicht larmoyante Haltung vieler Menschen beeindruckt, die ungeachtet nicht abgesicherter Planungen aktiv seien und Projekte initiierten. Die Devise laute: ‚Jammern hilft nicht. Machen!‘ „Einfach machen! Das macht man, wenn nichts einfach ist“, beschrieb die Ratsvorsitzende das Handeln an vielen Orten.
Angesichts all der Herkulesaufgaben im ganzen Land brauche man den Mut, auch dann „zu machen“, wenn man noch keine fertigen Lösungen habe, postulierte Annette Kurschus. „Ich meine den beharrlichen Mut und das zuversichtliche Gottvertrauen, schwach anzufangen – aber eben anzufangen. Und ich meine die Stärke, die darin liegt, gelegentlich auch Schwäche einzugestehen“, sagte die Ratsvorsitzende.
Deutschland sei ein Land mit einer außerordentlich starken Zivilgesellschaft, sagte Kurschus. Eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sehne sich danach, als mitverantwortlich, kompetent und veränderungsfähig wahrgenommen zu werden.
Ausführlich ging Annette Kurschus auf die aktuelle Debatte um den Umgang mit Flucht und Migration ein. „Der Streit um die Migration, so heißt es oft, sei ein Streit zwischen Idealisten und Realisten“, beschrieb sie die Auseinandersetzung: Idealisten, die der ganzen Welt helfen wollten und Realisten, die anmerkten, dass dies nicht möglich sei. Kurschus stellte die Fragen dagegen: „Wie realistisch ist eigentlich die Vorstellung, wir könnten uns die Wirklichkeit einer Welt, die angesichts globaler Konflikte und Kriege und einer gerade erst beginnenden Klimakrise ächzt, effektiv vom Halse halten? Wie realistisch ist eigentlich die Idee, wir müssten, wenn auch notgedrungen und zähneknirschend, die Rechte von Schutzsuchenden einschränken und könnten dabei zugleich ein weltoffener Kontinent und eine weltoffene Gesellschaft bleiben?“
Deutliche Kritik übte die Ratsvorsitzende und Präses an dem jüngsten Kompromiss der Europäischen Union zum Asylrecht. Mit vielen anderen teile sie den Eindruck, Europa habe damit „den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Migrationsfeindlichkeit gesucht und gefunden.“ Sehe sich Europa, das sich selbst als Hort grundlegender Menschen- und Freiheitsrechte verstehe, nicht in der Lage, diese Rechte anderen zu gewähren, fragte Kurschus. „Nun sollen also tatsächlich diejenigen, die diese Rechte suchen, tausendfach in Grenzlager kommen, Familien und Kinder eingeschlossen?“
Kurschus machte deutlich: „Wer wir sind und was uns unsere so genannten ‚Werte‘ wert sind, das zeigen wir auch und gerade im Umgang mit Geflüchteten.“ Abschottung und eine Rhetorik, die Angst verbreite, spiele hingegen denen in die Hände, „die Probleme bewirtschaften wollen, statt sie zu lösen.“
Über der Kritik an der Wendung, die Europa derzeit in der Flüchtlingspolitik vollziehe, vergesse sie keineswegs das großartige Engagement des ganzen Landes und der Kommunen bei der Aufnahme von Geflüchteten, unterstrich die Ratsvorsitzende. „Und ich erneuere heute und hier ausdrücklich das Versprechen: Die Evangelische Kirche wird – wie bereits 2015 und seither durchgängig – auch weiterhin eine verlässliche zivilgesellschaftliche Partnerin humaner Migrationspolitik sein“, stellte sie klar.
In Bezug auf die rückläufigen Zahlen der Kirchenmitgliedschaft wandte sich Annette Kurschus deutlich gegen „Schrumpfungskitsch“ und „vorauseilende Selbstverzwergung“, die zur freiwilligen Aufgabe wichtiger Funktionen in der Gesellschaft führe. „Wir erleben und gestalten Veränderung – und ja, wir erleben und erleiden Verlust“, sagte die Ratsvorsitzende. „Und wir spüren zugleich, wie wir in diesen rauer werdenden Zeiten an vielen Stellen gebraucht werden und wie sich jede Menge Möglichkeiten und jede Menge Lust einstellen, zu kooperieren, auszuprobieren und einfach zu machen.“
Bundeskanzler Olaf Scholz dankte in seiner kurzen Ansprache der Ratsvorsitzenden und allen Gliedkirchen der EKD für ihre differenzierte Haltung zu aktuellen Problemen, etwa bezüglich des Krieges in der Ukraine. Zugleich mahnte er den Mut zur Klarheit, aber auch Gelassenheit an. Diese sei insbesondere gegenüber anderen Sichtweisen im demokratischen Diskurs hilfreich. Differenzierte Betrachtungen, etwa im Hinblick auf die „Generationenaufgabe Klimaneutralität“ zuzulassen, sei letztlich „eine Frage des Respekts.“
„Weiß Gott, es sind Herkulesaufgaben, die vor uns liegen“, sagte Annette Kurschus mit Blick auf anstehende gesellschaftliche Probleme. Wir alle seien keine Heldinnen und Helden, und sollten uns auch nicht verführen lassen, solche zu spielen, mahnte sie. „Aber wir packen es an – miteinander und mit allen anderen: mit allen Menschen guten Willens und – wie es beim Apostel Paulus heißt – mit der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.“