Unsere aktuellen Nachrichten
auf einen Blick
Beauftragter für den interreligiösen Dialog zur eskalierenden Gewalt im Nahen Osten

„Keine einfachen Lösungen“

Wieder einmal eskaliert die Gewalt im Nahen Osten. Raketen werden aus dem Gaza-Streifen Richtung Israel abgeschickt und erreichen unter anderem Jerusalem und Tel Aviv. Das israelische Militär antwortet mit dem Bombardement von Hamas-Stellungen im Gaza-Streifen. Die Zahl der Verwundeten und Toten nimmt stetig zu. Zur Situation, den Ursachen der neu aufgeflammten Gewalt und den Hoffnungen in Israel und Palästina nimmt Ralf Lange-Sonntag, Referent im Landeskirchenamt der EKvW für die Beziehungen zu den Kirchen im Nahen und Mittleren Osten, Stellung:

Warum ist es in den vergangenen Tagen zu einer eskalierenden Gewaltanwendung im Nahen Osten gekommen?

Lange-Sonntag: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern besteht seit langem und ist äußerst komplex. Einseitige Schuldzuweisungen sind weder möglich noch führen sie zu etwas. Das Gemisch von Provokationen, Einschränkungen und Gewaltanwendung nährt Aggressionen, die sich regelmäßig Bahn brechen. Jetzt im Ramadan kam es zunächst zu Ausschreitungen in Jerusalem, zum einen wegen Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie, zum anderen wegen Provokationen von ultrarechten jüdischen Siedlern am Damaskustor in Ost-Jerusalem. Zu dieser aufgeheizten Stimmung trug zusätzlich bei, dass am 10. Mai der Jerusalemtag begangen wurde, an dem an die Eroberung der Altstadt im Sechstage-Krieg 1967 gedacht wurde, die nach Israels Verständnis die Einheit Jerusalems wiederherstellte. Die palästinensische Führung hingegen kämpft seit Jahrzehnten dafür, dass Ost-Jerusalem Hauptstadt eines eigenen Staates Palästina werden soll.

Ein weiterer heißer Konflikt betrifft die drohende Zwangsräumung in arabisch geprägten Dörfern im Großraum Jerusalem, diesmal vor allem im Viertel Shaikh Jarrah. Seit 30 Jahren versuchen jüdische Siedlerbewegungen, die arabischen Einwohner mit Hilfe von umstrittenen rechtlichen Regelungen zu verdrängen. Auf palästinensischer Seite wächst jedoch auch die Frustration über die eigene Führung, weil die für den Mai versprochenen Wahlen abgesagt worden sind. Gerade die radikale Hamas sieht sich um einen Sieg betrogen, so dass die von ihr ausgehende Gewalt gegen Israel auch als Zeichen an die eigene palästinensische Führung und Bevölkerung interpretiert werden kann. Die israelische Regierung wiederum wird die Eskalation der Situation wohl nicht geplant haben; doch könnte Ministerpräsident Netanjahu, der um seine Macht ringt, diese Situation ausnutzen, um sich als starker Mann zu präsentieren und sich so an der Macht zu halten.

Wie erleben die ökumenischen Partner*innen im Heiligen Land diese Situation?

Lange-Sonntag: Bischof Sani Ibrahim Azar, der leitende Geistliche der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land, hat in einem Brief am 8. Mai seine große Sorge wegen der Spannungen und der zunehmenden Gewalt ausgedrückt. Er sieht die Schuld an der derzeitigen Situation vor allem bei den Provokationen der jüdischen Siedlerbewegungen und beim israelischen Militär. Alle Konfliktparteien ruft Bischof Azar auf, alles zu beenden, was Hass und Gewalt sät, und stattdessen verantwortlich zu handeln und das Leben der Beteiligten zu schützen. Auch einige jüdische Gesprächspartner, die sich für Frieden und Menschenrechte einsetzen, kritisieren die Provokationen und Gewaltanwendungen. Beide Seiten – so Sarah Bernstein vom Rossing Centre for Education und Dialogue - würden die Situation für ihre eigenen machtzentrierten Ziele ausnutzen. Zugleich ist in Israel der Schock über die Gewaltbereitschaft der palästinensischen Bevölkerung groß. Raketenangriffe auf Jerusalem und Tel Aviv werden als eine neue Stufe der Gewalt angesehen, die jegliches Bemühen um Ausgleich konterkariert.

Wie geht es weiter?

Lange-Sonntag: Bischof Azar hat in seinem Brief betont, dass die evangelische Kirche vor Ort auch weiterhin für Versöhnung und einen gerechten Frieden beten und sich einsetzen wird. Auch in den westfälischen Kirchen sollte für den Frieden im Heiligen Land gebetet werden. Zugleich gilt es, einerseits die Komplexität des Konfliktes wahrzunehmen und sich einzugestehen, dass es keine einfachen Lösungen gibt, andererseits müssen Missstände und Rechtsverstöße konkret benannt werden. Die drohenden Zwangsräumungen in Sheikh Jarrah sind z.B. rechtlich sehr zweifelhaft und humanitär eine Katastrophe. Sie dienen nicht dem Wohl früherer jüdischer Bewohner der Häuser, sondern sollen das Ziel rechter Siedlerorganisationen durchsetzen, die arabische Bevölkerung von dort zu verdrängen.
Die EKvW sieht es als besonders wichtig an, im Gespräch mit den Menschen in Israel und in Palästina zu bleiben und ihre Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen ernst zu nehmen. Dort, wo Begegnungen immer schwieriger werden und Radikale beider Seiten versuchen, diese zu diskreditieren und zu verhindern, unterstützt die EKvW Organisationen, die sich für Verständigung und Austausch stark machen und Hoffnungszeichen setzen.

zurück