Und was glaubst Du?
Ein Begleiter durch Jahr und Tag

Jahreslosung

Nehmt einander an, wie Christus Euch angenommen hat zu Gottes Lob.

Römer 15, 7 / Jahreslosung 2015

So lautet die Jahreslosung 2015. Und dieser Vers aus dem Römerbrief des Apostels Paulus ist eine Aufforderung – mit einer Begründung und einem Ziel. Nehmt einander an: Das kann man auch als Aufforderung verstehen: Heißt einander willkommen! Und die Begründung wird gleich mitgeliefert: Wie Christus euch angenommen hat. Das ist ja das Zentrum unseres Glaubens, dass wir uns von Christus bejaht und angenommen wissen ohne jede Vorbedingung. Allein aus Gnade und Liebe. Ihm sind wir willkommen. Egal, wie es uns gerade geht, was wir vermögen und eben auch nicht. Schließlich: In dieser Art des Umgangs wird Gott gelobt. Es kommt ans Ziel, was er mit den Seinen und mit dieser Welt vorhat.

Um die Jahreswende blicken die meisten von uns noch einmal zurück – persönlich und als Kirche und Gesellschaft. Gern auch mit der Brille dieser Losung. Konnte ich Menschen annehmen, wie und weil Christus mich und sie angenommen hat? Meine Kinder? Meine Kolleginnen und Kollegen? Meine Nachbarn? Meine Ehefrau – meinen Ehemann? Fühlte ich mich so angenommen? Wenn wir darüber nachdenken, spüren wir vermutlich, dass das so einfach gar nicht ist. Umso erstaunlicher, dass Christus es tut.

»Da können Menschen eben nicht einander annehmen, vielleicht weil sie eine andere Religion oder Volkszugehörigkeit haben. Es ist schrecklich, was in diesem Sinne derzeit weltweit geschieht.«

Und dann: Hießen wir die willkommen, die Christus sicher auch angenommen hat? Das war und ist ja das große Thema derzeit auf dieser Welt. Da können Menschen eben nicht einander annehmen, vielleicht weil sie eine andere Religion oder Volkszugehörigkeit haben. Es ist schrecklich, was in diesem Sinne derzeit weltweit geschieht. Und dann machen sich Menschen auf, fliehen, suchen einen Ort – in geringer Zahl auch bei uns: Und sie erleben häufig einen ordnungspolitischen Umgang statt einer Willkommenskultur! Und dann gibt es noch Abstufungen: Roma stehen an letzter Stelle, Muslime nahe davor. Sie werden oft genug nicht angenommen, willkommen geheißen. Aber ich bin dankbar für die mehrheitlich weltoffen-toleranten Zeichen – das landeskirchenweite Engagement für den Schutz und die Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden sowie den Protest gegen die rechtspopulistischen PEGIDA-Parolen.

Der Hintergrund, auf dem Paulus nach Rom schreibt, ist konkret. In Rom gab es längst vor seiner Ankunft in der Hauptstadt eine christliche Gemeinde. Sie bestand in erster Linie aus ehemaligen Juden. Und wie in allen judenchristlichen Gemeinden hielten sie die Speisevorschriften und andere religiöse Ordnungen des Judentums ein. Im Zuge der Öffnung auch für Menschen, die nicht zum Judentum gehörten, waren gerade die Speisevorschriften umstritten. Müssen sich andere Christen auch daran halten? Manche leiteten nicht zuletzt aus der Freiheit vom Gesetz, die Paulus verkündete, Freiheit auch in dieser Hinsicht ab. Es ist doch egal, was ich esse. Selbst Fleisch von einem heidnischen Opferkult sollte mir erlaubt sein. Die einen erhoben sich über die anderen. Die Einheit der Gemeinde war bedroht. Und solche Spaltungen und Unversöhnlichkeiten verdunkeln die Botschaft vom christlichen Gott.

Vor dem Hintergrund der damals üblichen Götzenopferung bittet Paulus die Gemeinde um Kompromissbereitschaft. Er rät zum Verzicht von Opferfleisch. Aber er mahnt auch, sich nicht über die zu erheben, die sich eben durch die alten Vorschriften gebunden fühlten. Unter einem gemeinsamen Mindestnenner sollen sie sich gegenseitig annehmen, wie sie auch in beiden Lagern von Christus angenommen sind!

»Wieviel Gemeinsamkeit brauchen wir und mit wieviel Unterschiedlichkeit können wir einander annehmen und in diesem Miteinander ein Gott lobendes Zeugnis sein?«

Schnee von gestern?
Ich glaube nicht. Am 21. November haben wir in den katholischen Kirchen das Ökumenismusdekret des II. Vaticanums gefeiert. Durchbruch in den Beziehungen der römisch-katholischen Kirche zu den anderen Kirchen war, dass auch in Ihnen das Wirken des Hl. Geistes anerkannt wurde und dass auch der Katholizismus nicht ohne Beziehung zu diesen Gemeinschaften Kirche sein kann. Ein wichtiger Schritt, der noch lange nicht ganz umgesetzt ist zwischen den Kirchen. Wieviel Gemeinsamkeit brauchen wir und mit wieviel Unterschiedlichkeit können wir einander annehmen und in diesem Miteinander ein Gott lobendes Zeugnis sein? Das ist nach wie vor nicht einfach in der Frage nach dem Amt, nach der Ordination von Frauen, in der unterschiedlichen Bedeutung der auch strukturellen Einheit der Kirche(n), im Umgang mit Wiederverheirateten, in der Beurteilung der Homosexualität? Diese Anerkennung war im Übrigen auch zwischen Lutheranern und Reformierten nicht ganz leicht und hat lange, jahrhundertelang gebraucht.

Nehmet einander an: Das ist mit gutem Grund ein gern gewählter Trauspruch. Das wissen Unternehmensberater als gutes Motto für den Arbeitsplatz. Das brauchen Kinder von den Eltern, Schüler von den Lehrern, das brauchen Nachbarn mit unterschiedlichen Reinlichkeitsvorstellungen usw. Und: Das braucht wirklich die Welt. Das brauchen die Religionen. Die Völker. Das brauchen die unterschiedlichen Schichten unserer Gesellschaft.

»Aber so würde die Welt um einiges mehr so, wie Gott sie gedacht und geschaffen hat. Wie er sie haben will.«

Albert Henz Albert Henz

Wenn es gelingt, dieser Aufforderung nachzukommen weil wir spüren, dass wir selbst Angenommene sind, dann ist das großartig. Das bedeutet nicht, faule Kompromisse zu schließen. Das bedeutet nicht, das Ringen um die Wahrheit aufzugeben. Aber all das geschieht auf einer anderen Basis. In ihr dürfte kein Platz sein für Diskriminierung und Hass; für Abwertung und Verachtung. Aber so würde die Welt um einiges mehr so, wie Gott sie gedacht und geschaffen hat. Wie er sie haben will. Gerade und ganz besonders unter Christinnen und Christen.

Hilde Domin hat ein Gedicht geschrieben mit dem Titel: »Es gibt dich«:

Es gibt dich

Dein Ort ist
wo Augen dich ansehn.
Wo sich die Augen treffen
entstehst du.

Von einem Ruf gehalten,
immer die gleiche Stimme,
es scheint nur eine zu geben
mit der alle rufen.

Du fielest,
aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.

Es gibt dichweil Augen dich wollen,
dich ansehn und sagen
dass es dich gibt.

Albert Henz,
Theologischer Vizepräsident der Evangelischen Kirche von Westfalen, zur Jahreslosung 2015


Copyright-Hinweis zum Gedicht:
Hilde Domin, Es gibt dich. Aus: dies., Sämtliche Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009

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