Offensiv gegen sexualisierte Gewalt und für Betroffene
Fragen und Antworten

Verdachtsfall sexualisierter Gewalt im Bereich des Ev. Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein

Wer ist die beschuldigte Person und was wird dieser zur Last gelegt?

Es handelt sich um den ehemaligen Mitarbeiter einer Siegener Kirchengemeinde, der seit einigen Jahren im Ruhestand ist. Ihm werden sexuelle Übergriffe gegenüber jungen, möglicherweise auch minderjährigen Männern vorgeworfen.

Wer sind die Betroffenen?

Es handelt sich um ehemalige Musikschüler, die ihre Erlebnisse in Einzelfällen nach Jahrzehnten offenbaren.

Welcher Art war das Beschäftigungsverhältnis des Mannes?

Die beschuldigte Person war privatrechtlich bei einer Kirchengemeinde angestellt, es bestand kein Beamtenverhältnis.

Wie und wann wurde der Verdachtsfall gemeldet?

Die offizielle Meldung bei der Meldestelle im Rahmen der Fachstelle ‚Prävention und Intervention‘ der EKvW erfolgte im März 2023. Zuvor war hier bereits mehrfach anonymisierte Beratung in dieser Sache erfolgt.

Inwieweit war die Verbindung von Präses Annette Kurschus zu der beschuldigten Person bekannt?

Es war von Beginn an bekannt, dass es sich bei dem Beschuldigten um eine Person handelte, die Annette Kurschus aus ihrer langen Lebens- und Dienstphase in Siegen persönlich gut kannte. Es handelt sich um den Ehemann einer Schulfreundin von ihr, deren einer Sohn Patenkind von Annette Kurschus war.

Welche Schritte folgten der Meldung?

In seiner Sitzung am 28. März wurde das Kollegium des Landeskirchenamtes über den Verdachtsfall informiert. Aufgrund der persönlichen Nähe von Annette Kurschus zu der beschuldigten Person wurde die Präses verabredungsgemäß nicht in die Bearbeitung des Verdachtsfalls einbezogen, um etwaige Befangenheit oder den Verdacht der Einflussnahme auszuschließen. Entsprechend verließ die Präses zu den Beratungen des Vorgangs im Kollegium am 28. März und 4. April 2023 den Raum.

Ebenfalls am 28.3.2023 wurden das Kirchenamt der EKD sowie die stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende über den Verdachtsfall und die persönliche Verbindung zur Präses und Ratsvorsitzenden informiert.

Schon zuvor war die Meldung an den zuständigen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein übermittelt worden.

Die Kirchenleitung der EKvW wurde am 14.4.2023 im Rahmen einer Sondersitzung informiert.

Welche formalisierten Prozesse wurden eingeleitet?

Beim Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein wurde noch Ende März ein Interventions-Team eingerichtet, das von einer externen Beraterin geleitet und moderiert wird. Das Kirchengesetz der EKvW zum Schutz vor sexualisierter Gewalt sieht die Einrichtung eines solchen Interventionsteams vor. Dieses Team führt seine Arbeit auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt fort.

Der Superintendent der Kirchenkreises schaltete in Absprache mit der Landeskirche Ende März die Staatsanwaltschaft Siegen ein, die fortan ihre Ermittlungstätigkeit aufnahm.

Auf welchen Wegen erfolgte die weitere Kommunikation?

Sowohl die landeskirchliche Fachstelle als auch der Kirchenkreis standen und stehen Betroffenen zu unmittelbarem Kontakt offen und bemühen sich um einen intensiven Austausch. Seit März 2023 haben weitere Betroffene sowie Beteiligte wiederholt den Kontakt gesucht und ihrerseits Aussagen getätigt.

Das Interventionsteam in Siegen hat zudem im Herbst 2023 alle bis dahin bekannten Betroffenen zu einem vertrauensvollen Treffen und Austausch eingeladen. Diese Kommunikation wird fortgesetzt.

Die Präses der EKvW erhielt zeitnah nach Bekanntwerden des Verdachtsfalls Beratung durch den Leiter der Stabsstelle Kommunikation der EKvW, etwa in Form von schriftlich formulierten Handlungsempfehlungen. Zudem wurde ab April 2023 ein auf Krisenkommunikation spezialisiertes Unternehmen in die Bearbeitung einbezogen.

Auf eine proaktive, mediale Information über den Verdachtsfall wurde bewusst verzichtet.

Damit folgten Landeskirche und Kirchenkreis der dringenden Empfehlung sowohl seitens der Staatsanwaltschaft als auch externer Rechtsberater, im laufenden Verfahren keine Hinweise auf die beschuldigte Person bzw. ihre Identität zu veröffentlichen. Auch standen einzelne Betroffene einer Veröffentlichung zögerlich gegenüber.

Diese mediale Zurückhaltung kann in der Rückschau kritisch bewertet werden; sie nicht zu wahren, hätte möglicherweise die Brisanz in der späteren Berichterstattung verringern können.

Wie war der weitere Fortgang der Entwicklungen?

Knapp zwei Wochen nach der ersten Information über die Meldung erhielt die Leitung des Landeskirchenamts Anfang April 2023 die zusätzliche Information, dass ein weiterer mutmaßlich Betroffener gegenüber der landeskirchlichen Meldestelle geäußert habe, die Präses habe als junge Pfarrerin in den 90’er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon von den jetzt offengelegten Vorwürfen gegen die beschuldigte Person gewusst.

In einem persönlichen Gespräch wurde der Präses von diesem Vorwurf berichtet, auf die potentiell schwerwiegenden Folgen dieses Vorwurfs wurde hingewiesen. Gleichwohl verneinte die Präses, Kenntnisse in der beschriebenen Weise gehabt zu haben.

Die Kirchenleitung der EKvW setzte Anfang Mai durch Beschluss des juristischen Vizepräsidenten eine externe Beratergruppe ein, der u.a. ehemalige Mitglieder der westfälischen Kirchenleitung angehörten. Die weitere Bearbeitung des Sachverhalts wurde den bis dahin in der Sache tätigen Mitgliedern des Landeskirchenamts zugleich entzogen.

Die eingesetzte Beratergruppe befasste sich intensiv mit dem Sachverhalt, insbesondere den persönlichen Verbindungen zu Präses Annette Kurschus. Sie berichtete Mitte Juni der Kirchenleitung mündlich, im Juli schriftlich.

Wie war der weitere Fortgang der medialen Entwicklungen?

Im Mai nahm die "Siegener Zeitung" ihre Recherchen zum dem Verdachtsfall in Siegen auf. Zwei Betroffene hatten sich dem Vernehmen nach an die Redaktion gewandt. Es folgten u.a. intensive Hintergrundgespräche des Superintendenten mit dem Redakteur der Zeitung.

Im Vorfeld des Dt. Ev. Kirchentages Anfang Juni 2023 erfolgte ein Video-Treffen von Vertreter*innen der EKD, der EKvW sowie dem externen Krisenkommunikations-Berater.

Im Oktober erfolgte ein erneutes Videotreffen dieser Art, nachdem die "Siegener Zeitung" eine Anfrage an Annette Kurschus als Ratsvorsitzende über die Pressestelle der EKD gestellt hatte. In der Folge dieses Treffens wurde der Wortlaut einer gemeinsamen Antwort abgestimmt.

Die daraufhin erwartete Veröffentlichung durch die "Siegener Zeitung" erfolgte mit mehrwöchiger Verzögerung am Vortag der EKD-Synode in Ulm, also am Samstag, 11. November, gefolgt von weiteren Presseveröffentlichungen in den Tagen danach. Die Präses/Ratsvorsitzende informierte daraufhin die Synode öffentlich über den Verdachtsfall und ihren persönlichen Bezug. Dabei behielt sie jedoch die schon zuvor geübte Zurückhaltung im Hinblick auf die Identifizierbarkeit der beschuldigten Person bei. Auch bekräftigte sie, in der Vergangenheit keine Hinweise auf sexualisierte Gewalt wahrgenommen zu haben.

Wie ist der gegenwärtige Stand?

Um die mediale Aufmerksamkeit von ihrer Person zu nehmen und grundsätzlich die weitere gemeinsame Arbeit im Rahmen des ‚Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt‘ auf Ebene der EKD nicht zu belasten, erklärte Annette Kurschus am 20. November 2023 ihren Rücktritt von den Ämtern der Präses der EKvW und der EKD-Ratsvorsitzenden.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach wie vor zu keinem Ergebnis geführt. Eine Anklage wurde bisher nicht erhoben.

Die Kirchenleitung der EKvW hat beschlossen, unabhängig von dem Ergebnis der staatlichen Ermittlungsbehörden eine umfassende Aufarbeitung durch eine externe Einrichtung in Auftrag zu geben. Dieser Schritt war ursprünglich für die Zeit nach Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen geplant und wurde jetzt vorgezogen.

Ob daneben ggf. disziplinarrechtliche Verfahren anzustrengen sind, befindet sich gegenwärtig in Prüfung.

Stand: 08.01.2024